Der Sommer, als ich schön wurde
aufpassen.«
Konnte das sein?
»Nicht wirklich. Also, Jeremiah schon, aber bei Conrad ist es nur Pflichtbewusstsein. Jedenfalls war das immer so. Er hätte einen guten Samurai abgegeben.« Ich warf ihm einen Blick zu. »Tut mir leid – langweile ich dich?«
»Nein, red nur weiter«, sagte Cam. »Woher kennst du dich mit Samurai aus?«
Ich zog die Beine unter den Po und sagte: »Länderkunde bei Ms. Baskerville, neunte Klasse. Wir haben eine ganze Unterrichtseinheit über Japan und Bushido gemacht. Ich war damals total fasziniert von der Idee des Seppuku, oder Harakiri.«
»Mein Vater ist zur Hälfte Japaner«, sagte er. »Meine Großmutter lebt dort, und wir besuchen sie jedes Jahr.«
»Wow«, sagte ich. Ich war noch nie in Japan gewesen, und auch sonst nirgends in Asien. Auch meine Mutter war auf ihren zahlreichen Reisen nicht dorthin gekommen, aber sie hatte es immer vorgehabt, das wusste ich. »Sprichst du Japanisch?«
»Ein bisschen«, sagte er und strich sich über den Kopf. »Ich komme einigermaßen zurecht.«
Ich pfiff durch die Zähne. Dass ich das konnte, darauf war ich stolz. Mein Bruder Steven hatte es mir beigebracht. »Das heißt, du sprichst Englisch, Französisch und Japanisch? Wahnsinn! Du bist wohl so eine Art Genie«, neckte ich ihn.
»Außerdem spreche ich noch Latein«, erinnerte er mich grinsend.
»Latein spricht man nicht. Das ist eine tote Sprache«, sagte ich, nur um zu widersprechen.
»Es ist nicht tot. Es lebt in jeder westlichen Sprache.« Jetzt hörte er sich an wie mein Lateinlehrer in der Siebten, Mr. Coney.
Als wir uns dem Haus von diesem Kinsey näherten, hatte ich auf einmal gar keine Lust mehr auszusteigen. Es war einfach schön, so zu reden und jemanden zu haben, der mir wirklich zuhörte. Es war wie eine Art Rausch. Auf merkwürdige Weise fühlte ich mich stark.
Wir parkten in einer Sackgasse, in der jede Menge Autos standen. Manche standen schon fast auf dem Rasen. Cam mit seinen langen Beinen lief mit so großen Schritten, dass ich Mühe hatte hinterherzukommen. »Also, woher kennst du ihn?«, fragte ich.
»Er ist mein Dealer.« Er lachte, als er meinen Gesichtsausdruck sah. »Du bist wirklich leichtgläubig, Flavia. Seine Eltern haben ein Boot. Ich hab ihn unten am Segelhafen kennengelernt. Er ist nett.«
Wir klopften nicht an, sondern marschierten direkt rein. Die Musik war so laut, dass man sie bis zur Einfahrt hörte. Es war Karaoke-Musik – ein Mädchen sang aus voller Kehle Like a Virgin und wälzte sich am Boden, wobei sich ihr Mikrokabel um ihre Jeans wickelte. Im Wohnzimmer waren um die zehn Leute, die Bier tranken und ein Songbook herumreichten. » Livin’ on a Prayer – sing das als Nächstes«, drängte ein Typ das Mädchen am Boden.
Ein paar Jungs, die ich nicht kannte, musterten mich – ich spürte ihre Blicke und fragte mich, ob ich vielleicht tatsächlich zu stark geschminkt war. Es war ganz neu für mich, dass Jungen mich ansahen, geschweige denn mit mir weggehen wollten. Ich fühlte mich gleichermaßen toll und ängstlich. Ich entdeckte das Mädchen vom Lagerfeuer, das sich für Cam interessiert hatte. Sie sah zu uns herüber und gleich wieder weg. Später warf sie ihm immer wieder verstohlene Blicke zu. Sie tat mir leid – ich wusste, wie sie sich fühlen musste.
Unsere Nachbarin Jill, die immer am Wochenende nach Cousins kam, war auch da. Sie winkte mir zu, und mir wurde bewusst, dass ich sie noch nie außerhalb unserer Straße, sozusagen von Vorgarten zu Vorgarten, gesehen hatte. Sie saß neben einem der Jungen von der Videothek, dem, der immer dienstags arbeitete und sein Namensschild verkehrt herum trug. Da er dann hinter dem Schalter stand, hatte ich ihn bisher nur bis zur Taille gesehen. Außerdem war noch Katie da, die Kellnerin von Jimmys Krabbenbar, dieses Mal ohne ihre rot-weiß gestreifte Uniform. All diese Leute hatte ich Sommer für Sommer gesehen, solange ich auf der Welt war. Jetzt wusste ich, wo sie ihre Zeit verbrachten – auf Partys, von denen ich ausgeschlossen war, eingesperrt wie Rapunzel, um mit meiner Mutter und Susannah im Sommerhaus alte Filme zu gucken.
Cam schien alle und jeden zu kennen. Er begrüßte die anderen, klopfte den Jungen auf die Schulter und umarmte die Mädchen. Er stellte mich vor. Meine Freundin Flavia nannte er mich. »Ich möchte dir meine Freundin Flavia vorstellen«, sagte er. »Das ist Kinsey. Es ist sein Haus.«
»Hi, Kinsey«, sagte ich.
Kinsey lungerte auf der Couch. Er trug kein Hemd
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