Der Sommer, als ich schön wurde
hab ich recht?«, sagte meine Mutter und ließ die Hände kraftlos sinken.
Jeremiah atmete heftig ein, und ich wusste, dass er die Luft anhielt, um nicht weinen zu müssen. In seinem Gesicht zeigten sich bereits die ersten blauen Flecken. Conrads Miene hingegen war gleichgültig, unbeteiligt. So als wäre er gar nicht da.
Bis seine Gesichtszüge auf einmal irgendwie auseinanderfielen und er plötzlich wie ein Achtjähriger aussah. Ich drehte mich um und sah Susannah in der Tür stehen. So zerbrechlich sah sie aus, wie sie dastand in ihrem weißen Hauskleid aus Baumwolle. »Es tut mir leid«, sagte sie und hob die Hände in einer hilflosen Geste.
Zögernd trat sie auf die Jungen zu, und meine Mutter machte ihr Platz. Susannah streckte die Arme aus, und Jeremiah ließ sich sofort hineinfallen. Obwohl er so viel kräftiger war als sie, sah er klein aus. Das Blut von seinem Gesicht machte Flecken auf ihr Kleid, aber die beiden lösten sich nicht voneinander. Jeremiah weinte, wie ich ihn nie mehr hatte weinen sehen, seit Conrad ihm einmal vor vielen Jahren versehentlich die Finger in der Autotür eingeklemmt hatte. Damals hatte Conrad genauso heftig geweint wie Jeremiah, doch nicht dieses Mal. Er ließ zu, dass Susannah ihm übers Haar strich, doch er weinte nicht.
»Komm, Belly, wir gehen«, sagte meine Mutter und nahm meine Hand. Das hatte sie schon ganz lange nicht mehr getan. Wie ein kleines Mädchen folgte ich ihr ins Haus, nach oben, in ihr Zimmer. Sie schloss die Tür und setzte sich aufs Bett. Ich setzte mich neben sie.
»Was geht hier eigentlich vor?«, fragte ich unsicher, während ich ihr Gesicht nach einer Antwort absuchte.
Sie nahm meine Hände zwischen ihre eigenen. Ganz fest hielt sie sie, so als wäre sie diejenige, die sich an mir festhielt, und nicht andersherum. »Belly«, sagte sie dann, »Susannah ist wieder krank.«
Ich schloss die Augen. Ich hörte das Tosen des Meeres um mich herum, es war, als hielte ich eine Riesenmuschel dicht an mein Ohr. Es war nicht wahr. Es war einfach nicht wahr. Ich war in diesem Moment überall anders, nur nicht hier. Ich trieb dahin unter einem Zeltdach aus Sternen; ich war in der Schule, im Matheunterricht; auf meinem Fahrrad auf dem Pfad hinter unserem Haus. Ich war nicht da. Das hier passierte einfach nicht.
»Ach, Bean«, seufzte meine Mutter, »du musst jetzt mal die Augen aufmachen. Du musst mir zuhören.«
Ich wollte die Augen nicht aufmachen; ich wollte nicht zuhören. Ich war gar nicht da.
»Sie ist krank. Schon lange. Der Krebs ist zurückgekommen. Und er ist – er ist aggressiv. Er hat auf die Leber übergegriffen.«
Ich öffnete die Augen und riss die Hände los. »Hör auf damit! Sie ist nicht krank. Sie ist absolut fit. Sie ist immer noch Susannah.« Mein Gesicht war nass, ich hatte nicht einmal bemerkt, wann ich angefangen hatte zu weinen.
Meine Mutter nickte und fuhr sich mit der Zunge über die Lippen. »Du hast recht, sie ist immer noch Susannah. Sie geht mit den Dingen auf ihre Weise um. Sie wollte nicht, dass ihr Kinder davon erfahrt. Es war ihr Wunsch für diesen Sommer, dass er so sein sollte – perfekt.« Ihre Stimme blieb an dem Wort perfekt hängen, wie eine Laufmasche, die plötzlich mitten am Bein endet. Tränen standen meiner Mutter in den Augen.
Sie zog mich an sich, hielt mich ganz fest und wiegte mich behutsam. Und ich ließ es zu.
»Aber sie wussten es«, schluchzte ich. »Alle haben es gewusst, bloß ich nicht. Ich bin die Einzige, die keine Ahnung hatte, dabei liebt niemand Susannah so wie ich.«
Was nicht stimmte, und das wusste ich auch. Jeremiah und Conrad liebten sie am meisten. Aber es fühlte sich wahr an. Ich wollte meiner Mutter sagen, dass es ja auch keine Rolle spielte, schließlich hatte Susannah schon einmal Krebs gehabt und war wieder gesund geworden. Das würde auch dieses Mal so sein. Aber wenn ich das laut aussprach, dann würde ich damit eingestehen, dass Susannah tatsächlich Krebs hatte, dass das, was hier geschah, Wirklichkeit war. Und das konnte ich nicht.
Nachts lag ich weinend in meinem Bett. Der ganze Körper tat mir weh. Ich machte alle Fenster in meinem Zimmer auf und lag da im Dunkeln und lauschte dem Meer. Ich wünschte, das Meer würde mich mit hinausnehmen und nie mehr zurückbringen. Ich fragte mich, ob Conrad sich in diesem Moment genauso fühlte. Oder Jeremiah. Oder meine Mutter.
Es kam mir vor, als wäre es das Ende der Welt, als würde nichts mehr so sein wie zuvor.
Es war das Ende
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