Der Sommer, als ich schön wurde
Arbeit, seine Haare waren noch nass. Ich hatte nicht einmal gehört, wie er vorgefahren war. Ein einziger Blick auf uns beide, und er wusste, dass irgendwas Schlimmes im Gange war. Richtig erschrocken sah er aus. Und dann wurde er wütend. »Was zum Henker ist hier eigentlich los? Hast du ein Problem, Conrad?«
Conrad funkelte ihn an. »Schaff sie mir einfach aus den Augen. Ich hab echt keinen Kopf für so was.«
Ich zuckte zusammen. Es war, als hätte er mich tatsächlich geschlagen. Schlimmer noch.
Er wollte weggehen, aber Jeremiah packte ihn am Arm. »Mann, es wird aber Zeit, dass du dich der Sache mal stellst. Du benimmst dich doch wie ein Idiot. Hör endlich auf, deine Wut an allen anderen auszulassen. Und lass Belly in Ruhe.«
Ich zitterte. Sollte das etwa meinetwegen gewesen sein? Seine Launenhaftigkeit den ganzen Sommer über, die Stunden, die er sich in seinem Zimmer eingeschlossen hatte? War da noch mehr gewesen als die Scheidung seiner Eltern? Hatte es ihn so verstört, dass er mich mit einem anderen gesehen hatte?
Conrad versuchte, Jeremiah abzuschütteln. »Vielleicht lässt du mich mal in Ruhe? Wie wäre das?«
Aber Jeremiah ließ ihn nicht los. »Den ganzen Sommer über haben wir dich in Ruhe gelassen. Haben zugeguckt, wie du geschmollt hast wie ein kleiner Junge, wie du gesoffen hast. Dabei bist du doch eigentlich der Ältere, oder nicht? Der große Bruder? Dann benimm dich auch so, du Volltrottel. Reiß dich verdammt noch mal zusammen und kümmer dich!«
»Geh mir aus den Augen«, knurrte Conrad.
»Nein.« Jeremiah trat noch einen Schritt auf ihn zu, bis die Gesichter der beiden nur noch Zentimeter auseinander waren, geradeso wie Conrads und meins vor wenigen Minuten.
»Ich warne dich, Jeremiah«, sagte Conrad, und seine Stimme klang wirklich gefährlich.
Die beiden waren jetzt wie zwei wütende Hunde, die sich knurrend und geifernd umkreisen. Mich hatten sie völlig vergessen. Ich fühlte mich, als schaute ich bei etwas zu, das ich eigentlich nicht sehen sollte. Als würde ich spionieren. Am liebsten hätte ich mir die Ohren zugehalten. In all den Jahren, die ich die zwei kannte, hatte ich sie nie so erlebt. Vielleicht hatten sie sich mal gestritten, aber so wie jetzt waren sie nie gewesen, kein einziges Mal. Ich wusste, ich sollte weggehen, aber ich brachte es nicht fertig. Ich stand einfach da, am Rand, die Arme fest vor der Brust verschränkt.
»Du bist genau wie Dad, weißt du das?«, brüllte Jeremiah.
In dem Moment wusste ich, dass es nichts mit mir zu tun hatte. Das hier war größer als alles, was mit mir zu tun haben konnte. Hier ging es um etwas, wovon ich nichts wusste.
Conrad stieß Jeremiah grob von sich, und Jeremiah stieß ihn zurück. Conrad stolperte und fiel beinahe, und als er wieder auf die Beine kam, boxte er Jeremiah direkt ins Gesicht. Ich glaube, ich habe geschrien. Dann gingen sie aufeinander los wie zwei Ringer, fluchend und schwer atmend schlugen sie aufeinander ein. Susannahs große Karaffe mit Sonnentee fiel um und ging zu Bruch. Tee lief über die Veranda. Im Sand waren Blutspuren. Wessen Blut es war, wusste ich nicht.
Der Kampf ging weiter, trotz der Glasscherben am Boden und obwohl Jeremiah dabei war, seine Flip-Flops zu verlieren. Ein paarmal schrie ich »Stopp!«, aber sie hörten mich nicht. Wie sehr sich die beiden glichen, noch nie war mir das aufgefallen. Doch in diesem Moment war nicht zu übersehen, dass sie Brüder waren. Sie hörten nicht auf, bis ganz plötzlich meine Mutter mitten im Gewühl stand. Wahrscheinlich war sie durch die zweite Verandatür gekommen, keine Ahnung. Jedenfalls war sie plötzlich da und trennte die beiden mit dieser unglaublichen brutalen Kraft, wie nur Mütter sie haben.
Sie drückte beiden eine Hand auf die Brust und hielt sie so auf Abstand. »Hört auf damit«, sagte sie, und sie klang nicht wütend, sondern einfach nur unheimlich traurig. Sie hörte sich an, als würde sie gleich weinen, dabei weinte meine Mutter nie.
Conrad und Jeremiah atmeten schwer. Sie sahen einander nicht an, aber es gab eine unsichtbare Verbindung unter den dreien. Sie verstanden etwas, wovon ich nichts wusste. Ich stand einfach am Rand und war Zeuge des Geschehens. Es war wie damals, als ich mit Taylor in die Kirche ging. Alle kannten die Lieder und sangen mit, alle außer mir. Sie warfen die Arme in die Luft und wiegten sich im Takt, jedes Wort wussten sie auswendig, und ich kam mir vor wie ein Eindringling.
»Ihr wisst, was los ist,
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