Der Sommer der Gaukler
der Haufen wieder bis an den Rand des Sitzlochs reichte, das Ausscheuern der Pissrinne nach einer besoffenen Festivität?
Von einer der Stallmägde wusste sie, dass sein Trieb von seiner Sauferei bereits zermürbt und nur noch durch gröbste Reize anzustacheln war. Er würde sie also nicht Nacht für Nacht belästigen, schon allein deshalb, weil die Sache geheim bleiben musste. Bei allzu offenkundigen Verstößen gegen die Sittlichkeit war die Schankerlaubnis schnell beim Teufel. Die Denunziation eines Missgünstigen, von denen es im Dorf nicht zu wenige gab, würde schon genügen.
Würde Babett nachgeben, hätte sie ihre Ruhe. Der Wirt würde ihren Gehorsam gewiss honorieren. Sie hätte ihn sogar in der Hand. Genau besehen, war auch er ein Gefangener, sein grobschlächtiger, stolzer Habitus war Theater. Seine Macht verdankte er nur dem Umstand, dass ein cleverer Vorfahr die Obrigkeit geschmiert hatte, um die hiesige Poststelle zu ergattern. Sowie jenem, dass das Wirtshaus zum Umschlagplatz interessanter Neuigkeiten geworden war – als nämlich die Beamten der Reichenhaller Saline ins Dorf kamen, um die Verlegung der Soleleitung vorzubereiten, gab es bereits nur noch einen Grundbesitzer, mit dem über die Grundpacht zu verhandeln war. So waren die Kolberischen über die Jahre zu jenem Reichtum und Einfluss gelangt, von denen der Wirt heute zehrte. Ohne all das bliebe ein alternder Schwächling übrig, ein von kranker Leber, verdreckten Bronchien und Krampfadern gepeinigtes, von Ängsten gebeuteltes, Mitleid erregendes Wesen.
Babett fletschte unwillkürlich die Zähne. Ja – sie könnte Macht über ihn bekommen, ihn auf die Knie zwingen und schließlich, und nichts anderes hätte er verdient, vernichten. Und dann wäre sie frei. Frei für –
Nein.
Vester würde es vielleicht nie erfahren. Aber sie wüsste es. Ihrwäre er immer gegenwärtig, dieser Schmutzfleck auf der Seele. Ein in ihrem Inneren wucherndes Geschwulst hätte es in sie gepflanzt, genährt von Lüge, Selbstverachtung und der steten Angst, dass Vester irgendwann davon erfahren würde. Und es hätte das Einzige vernichtet, das sie in die Liebe zu Vester einbringen konnte, und das sie benötigen würde, um das Leben mit ihm zu bestehen – ihren Stolz auf sich und ihre Würde.
Nein, sie durfte sich nicht die Wahl der Waffen von Kolber diktieren lassen. Würde sie die seinen benutzen, hätte er gesiegt, auch wenn er selbst dabei zugrunde gehen würde.
Sie lächelte in sich hinein. Ja, sie würde es schaffen. Vester allerdings durfte sie nicht ins Vertrauen ziehen; er wäre imstande, ein Blutbad anzurichten. Und es würde auch nicht mehr lange dauern. Die Ausbeute der Bergknappen falle in diesem Jahr gut aus, hatte Vester stolz berichtet. Nur noch einige Wochen Arbeit bis zu Winterbeginn, dann könne er mit einem saftigen Anteil rechnen.
Sie liebte Vester, weil er so einfach war, so geradeheraus und so unfähig, sich zu verstellen. Weil er, wenn er rechnete, es so schlicht und so durchsichtig tat. Und weil er ihr gut gefiel. Als Babett an ihn dachte, durchströmte sie plötzlich eine maßlose, beinahe betäubende Kraft. Und endlich konnte sie weinen.
5
D ie Luft außerhalb des Dorfes war perlend und würzig. Schikaneder atmete tief durch. Eine betörende, beinahe unnatürliche Ruhe herrschte, unterbrochen nur vom Gezwitscher der Vögel und dem Summen von Fliegen und Mücken. Die nachmittägliche Sonne stach durch die glitzernde Luft, und silbriger Schimmer umspielte das Blattwerk der Buchen entlang des Weges, den Schikaneder eingeschlagen hatte. Noch schien der Sommer nicht willens abzutreten. Doch auf den Höhen im Süden, unterhalb des wie eine riesige, verfallene Festung aufragenden Kalksteinmassivs, kündigten rot und golden durch- sprenkelte Waldungen den nahen Herbst an. Ein makelloser Himmel überspannte den Talkessel. Ein kleiner Fluss durchschnitt ihn, mündete in einen von Torfpolstern umgebenen See unterhalb des Dorfes, bevor er sich seinen Weg durch eine Waldschlucht ins nördliche Flachland bahnte.
Auf einer Anhöhe über dem Kirchort, gekrönt von einer ausladenden Buche, machte Schikaneder Rast. Er setzte sich zu Füßen eines mannshohen Felsblocks, in den ein klobiges Kreuz eingemeißelt war, und streckte die Beine von sich. Er spürte den sonnenwarmen Stein in seinem Rücken. Die Magd des Postwirts – hieß sie nicht Babett? – hatte, als sie ihm den Weg zum Wasserfall des Eberbachs erklärte, von einem Peststein am Wegrand
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