Der Sommer der silbernen Wellen: Roman (German Edition)
immer noch nicht zurückgerufen, und ich hatte beobachtet, wie sie traurig vor dem schweigenden Telefon gestanden hatte. Liebte sie ihn vielleicht doch? Aber wenn ja, warum spielte sie dann mit Aram? Ich hätte gern gewusst, warum sie nicht mehr vom Ballett erzählte und es ihr nichts auszumachen schien, dass sie das Vortanzen verpatzt hatte. Es interessierte mich, warum sie ihrer Mutter gegenüber so verbittert war, obwohl sie die beste Mutter der Welt hatte.
Doch ich sagte nichts. Zwischen uns klaffte ein zu tiefer Graben. Ich konnte nicht erwarten, dass sich Corinne mir gegenüber öffnete.
Corinne seufzte laut, drückte ihre Zigarette aus und lehnte sich über das Geländer, gestützt auf ihre dünnen Arme. Ballerinas sehen so zerbrechlich und feenhaft aus. Sie sind so zart, ihre Bewegungen scheinbar mühelos grazil, dabei sind sie unwahrscheinlich stark. In diesem Moment wirkte meine Cousine so unschuldig und hübsch in ihrem melonenfarbenen Kleid mit schmalen Spaghettiträgern. Aber wenn man ihr in die Augen sah, wusste man, dass sie hart und abgestumpft war. Ich begriff einfach nicht, warum sie sich so verändert hatte. Die Welt lag ihr zu Füßen und sie konnte alles haben, was sie nur wollte, anders als wir normalen Mädchen, die niemals hoffen durften, auch nur halb so aufregend und geradezu magnetisch anziehend zu sein wie Corinne.
Warum wechselte sie ständig zwischen der natürlich fröhlichen, lebenslustigen Corinne, wie ich sie gekannt hatte, und der mürrischen, abgedrehten Person, in die sie sich verwandelt hatte? Konnte sie diesen Wechsel willkürlich herbeiführen, Ein und Aus, wie bei einem Lichtschalter, oder war der kalte, leere Ausdruck in ihren Augen nichts, was sie kontrollieren konnte? Ich versuchte, mir irgendetwas oder irgendjemanden in Corinnes exklusivem, luxuriösem Leben vorzustellen, das oder den sie nicht kontrollierte. Doch mir fiel nichts ein. Corinne besaß viele Talente – unter anderem konnte sie Leute um den Finger wickeln, auch wenn sie sich nicht von ihrer nettesten Seite zeigte.
Leute wie mich.
»Habe ich dich schockiert?«, fragte Corinne plötzlich, drehte sich um und sah mich an. »Du musst mich für völlig abgedreht halten.«
Sofort kam mir das Bild in den Sinn, das ich eigentlich lieber vergessen wollte: Corinne, wie sie im Sand lag und von der bekifften Gen geküsst und angefasst wurde. Welche Antwort konnte ich ihr geben, ohne mich zu verraten? Wenn ich sagte, ich sei schockiert, würde sie mich niedermachen, weil ich über sie urteilte, oder mich prüde schimpfen. Wenn ich behauptete, ich sei nicht schockiert, war das aber ebenfalls ein Urteil – und außerdem eine offensichtliche Lüge. Damit hätte ich eine Rückgratlosigkeit bewiesen, die ich nicht länger an mir duldete.
»Es geht mich nichts an, was du tust«, antwortete ich diplomatisch und knabberte an der Schale meines Apfels.
»Aber ich habe dich gefragt, und damit geht es dich etwas an«, entgegnete Corinne.
»Wir leben in verschiedenen Welten«, erwiderte ich ausweichend. Das war hohl und ein wenig arrogant.
»Stimmt. Das tun wir.« Corinne blickte wieder hinaus aufs Meer. »Ich glaube, ich war immer neidisch auf dich, Mia. Wusstest du das? Deswegen kann ich manchmal so gemein sein.«
Ich hörte auf, meinen Apfel mit den Zähnen zu schälen. Sollte das ein Witz sein? Corinne, neidisch auf mich? Vielleicht in einem Paralleluniversum, in dem alles genau umgekehrt war wie hier auf der Erde. »Neidisch? Worauf denn?«, fragte ich. »Was habe ich, das du nicht hast?«
Corinne schlang ihre dünnen, glatten braunen Arme um den Oberkörper, weil der Wind auffrischte. Sie bekam eine Gänsehaut. »Zum Beispiel eine glückliche Familie«, antwortete sie sanft, und ich sah Tränen in ihren Augen glitzern. Doch sie wandte den Blick ab.
»Eine glückliche Familie.« Ich blinzelte und musste erst einmal verdauen, was Corinne da gesagt hatte. Eine glückliche Familie? Meine Eltern hatten Geldsorgen, meine Mutter stritt sich andauernd mit meinem Vater und wirkte unglücklich. Ich hatte kein enges Verhältnis zu meiner Mutter … Eva war ein verzogenes Gör … was war daran beneidenswert? Zugegeben, so schlecht war meine Familie nun auch wieder nicht. Wir waren einfach normale Leute mit normalen familiären Problemen.
Aber Corinne brauchte doch keine Normalität! Sie hatte alles, was sie wollte, und mehr als das. Sie war eine begabte Balletttänzerin. Sie sah aus wie ein Model aus der Kosmetikwerbung.
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