Der Sommer der silbernen Wellen: Roman (German Edition)
Ihre Eltern liebten und verwöhnten sie. Und ihr Vater und ihre Mutter liebten einander. Was für ein Unsinn! Corinne musste doch wissen, wie lächerlich sie klang?
»Weißt du, ich habe mir oft gewünscht, mit dir tauschen zu können. Und deine Eltern statt meine zu haben«, fuhr Corinne fort und gab dann reumütig lächelnd zu: »Ich weiß, das hört sich schrecklich an.«
Ich schüttelte den Kopf. Jetzt reichte es mir! »Du hast die beste Mutter aller Zeiten, Corinne. Und wenn du nicht erkennst, wie rundherum traumhaft dein Leben ist, bist du blind und verrückt!« Ich holte tief Luft, überrascht von der bitteren Strenge meiner Worte. Aber sie hatte es herausgefordert, und ich hatte schon lange darauf gewartet, das einmal loszuwerden.
»Kennst du den Spruch: ›Die Kirschen aus Nachbars Garten schmecken immer besser‹?«, fragte Corinne mit schiefem Lächeln. »Es kommt eben ganz auf den Standpunkt an. Weißt du, was ich meine?«
Ich blinzelte ein paar Mal und wartete, bis mein Zorn sich etwas gelegt hatte. »Kann sein«, antwortete ich steif. Vielleicht gab es aus der Nähe betrachtet in Corinnes Leben tatsächlich Probleme, die ihr sehr ernst vorkommen mochten, von meiner Warte aus aber nichtig wirkten. Doch ich verstand noch immer nicht, was sie an meinem Leben als irgendwie beneidenswert betrachtete.
»Aber deine Mutter … sie ist doch wirklich super! Sie erlaubt dir alles, was du willst, und sie war schon immer stolz auf dich. Wenn sie meine Mutter anruft, schwärmt sie ihr jedes Mal vor, wie toll du tanzt und wie klasse du bist. Meine Mutter …« Ich schluckte, denn ich wollte meinen Schmerz nicht zeigen. Ich wollte Corinnes Mitleid nicht. Ich wollte nur, dass sie mich verstand. »Meine Mutter ist nicht stolz auf mich. Sie wünscht sich, ich wäre mehr wie sie. Mehr wie Eva. Oder wie du.«
Daraufhin lachte Corinne, trocken und tief. »Aber nicht alles ist so, wie es von außen scheint. Zum Beispiel das Verhältnis zwischen mir und meiner Mutter. Von dem Tag meiner Geburt an musste ich immer perfekt sein. Perfekt aussehen. Eine Tänzerin werden. Die beste Tänzerin.«
Ich runzelte die Stirn. Das passte so gar nicht zu dem Bild, das ich von meiner Tante hatte. Ich hatte sie immer als Corinnes größten Fan betrachtet, sich selbstlos aufopfernd, damit Corinne die Leidenschaft ausleben konnte, die ihr in die Wiege gelegt war.
»Aber ich dachte, du wolltest Balletttänzerin werden!«, entgegnete ich und fragte mich, ob Corinne mich auf den Arm nahm und der neidische Unterton in ihrer Stimme bloß geheuchelt war. Andererseits wusste ich, dass Corinne unglücklich war und ihre Ballettkarriere auf tönernen Füßen stand. Corinne hat ein schweres Jahr hinter sich. »Ich dachte, das Tanzen wäre dein Ein und Alles«, fügte ich hinzu.
»Vielleicht war es das mal«, antwortete Corinne achselzuckend. »Oder auch nicht. Ich weiß es nicht. Ich habe keinen Vergleich. Etwas anderes als Ballett habe ich nie gekannt.« Jetzt hob Corinne den Blick und sah mir direkt in die Augen. Ihre feinen Gesichtszüge bebten. Ich wusste, es war ihr ernst. Sie fuhr fort: »Dass ich Balletttänzerin werde, war der Traum meiner Mutter. Nicht meiner. Das kann man mit deiner Liebe zum Meer und deinem Interesse an dem ganzen Wissenschaftskram nicht vergleichen. Das hast du dir selbst ausgesucht, warst immer du selbst. Bei mir ist es das Gegenteil. Mir wurde gesagt, wie ich sein sollte, und ich weiß nicht, ob ich wirklich so bin.«
Mir schwirrte der Kopf. Was Corinne da erzählte, kam mir so unwirklich vor. Auf der anderen Seite hatte es schon während der ganzen Sommerferien Anzeichen dafür gegeben, dass das Verhältnis zwischen Corinne und Tante Kathleen getrübt war. War es nie richtig harmonisch gewesen? Woher sollte ich das eigentlich wissen? Ich hatte meine Tante und meine Cousine nur in den Ferien erlebt, als ich noch ein Kind war. Vielleicht war meine Tante gar nicht die tolle Mutter, als die ich sie betrachtet hatte.
Aber auch wenn Corinne das Verhältnis zwischen ihr und ihrer Mutter realistisch beschrieb, so irrte sie sich doch, was mich anging. Du warst immer du selbst, Mimi. Wie kam sie bloß darauf? Ich umklammerte das Geländer, als suchte ich Halt gegen die innere Flutwelle, die in mir wogte. Ich hatte Kopfschmerzen. Zu viele widersprüchliche Gedanken kollidierten miteinander, von denen jeder den anderen wie eine Fehlinterpretation oder einen Haufen Lügen aussehen ließ. Ob die Wahrheit irgendwo
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