Der Sommer der Toten
aufgerissen wurde.
Hereingestürmt kam Bettina. Ihr Gesicht war völlig verheult. Sie stand wankend im Raum und es war offensichtlich, dass sie etwas mitteilen wollte.
Sie bekam allerdings kein Wort heraus, sondern brach zusammen und wäre ungebremst auf die Steinzeugfliesen geknallt, wenn nicht einer der Polizisten geistesgegenwärtig reagiert und sie aufgefangen hätte.
Kurz darauf kam Bernd hinterher. Auch er war leichenblass und von seinem sonst üblichen Macho-Gehabe war ebenfalls nicht mehr viel übrig.
„Was ist hier nur los?“, fuhr Frau Seibert ihn an.
„Tot“, murmelte Bernd nur.
„Tot?“ hakte Frau Seibert nach. „Ist wieder ein Bewohner gestorben?“
„Nein ...“, murmelte Bernd fahrig.
Frau Seibert war schon im Begriff, erleichtert aufzuatmen, als Bernd nachsetzte: „Alle ...“
12.
Der Anblick war furchtbar. Überall saßen oder lagen die verstorbenen Bewohner des Seniorenstifts herum. So als hätte sie jemand achtlos hier beiseite gelegt – so wie ein kleines Mädchen eine Puppe in die Ecke wirft, mit der sie nicht mehr spielen will.
Ganze 34 Bewohner waren zum Schluss noch übriggewesen und jetzt waren alle tot. Auf einen Streich.
Frau Seibert hielt permanent die Hand vor dem Mund, als wolle sie verbergen, was sie in diesen Momenten fühlte. Das abgrundtiefe Entsetzen stand ihr dennoch im Gesicht geschrieben.
Nachdem sich Bettina von ihrer Ohnmacht erholt hatte, konnte sie zunächst grob umreißen, was passiert war. Es begann damit, dass eine Bewohnerin kollabierte und Sekunden später tot in den Sessel zurücksank, auf dem sie saß. Bis dahin war das eigentlich noch Alltag im Seniorenstift. Alte Menschen legen nun mal die Eigenart an den Tag, zu sterben. Trotz der Häufigkeit an Todesfällen in den letzten Wochen bekamen die Mitarbeiter diese Situation noch mit der nötigen Professionalität in den Griff.
Bei den Mitbewohnern machte sich zwar eine gewisse Betroffenheit breit, aber auch das war in Anbetracht der Situation durchaus im Bereich des Normalen anzusiedeln. Was dann kam, sprengte allerdings das, was die Mitarbeiter zu leisten imstande waren. Sekunden nachdem sie den Tod der Dame registriert und mit den nötigen Schritten begonnen hatten, fasste sich ein Mann krampfhaft an sein Herz, keuchte laut auf und sackte schließlich zusammen. Während sich ein Teil der Leute noch um die Dame kümmerte, wandte sich der andere Teil schon ab, um sich des Herrn anzunehmen, der soeben zusammengebrochen war.
Danach ging alles Schlag auf Schlag. Im Abstand von wenigen Sekunden verstarben die anderen Bewohner – meist an den Leiden, an denen sie oft schon seit Jahren herumlaborierten. Herzkrankheiten, Schlaganfälle, Krebsleiden, Insuffizienzen ...
Dennoch machte sich bei dem noch lebendigen Teil der Bewohner eine heftige Panik breit, als deutlich wurde, dass alle nach und nach wegstarben – so als hätte jemand giftige Gase in den Raum geleitet.
Nach drei Minuten war der Spuk vorbei. Rasch untersuchten sie noch die Zimmer mit den bettlägerigen Bewohnern und kamen auf das selbe Ergebnis: Alle tot.
„In diesem Seniorenstift wird so bald niemand mehr einziehen“, beklagte sich Frau Seibert. „Wir werden bis in alle Ewigkeit unseren Ruf weghaben!“
Der Gedanke war in der gegebenen Situation eigentlich erst einmal irrelevant. Dennoch sagte niemand etwas. Wer Frau Seibert kannte, wusste, dass sie sich in Stress-Situationen immer wieder gerne in einen gewissen Materialismus flüchtete. Und auch wer sie nicht kannte und demnach ihre Reaktion nicht ganz genau zu deuten vermochte, bekam sehr schnell mit, dass dahinter lediglich ein Versuch steckte, diesen unglaublichen Zwischenfall in Worte zu fassen.
Sie standen zu sechst – Frau Seibert, Bettina, die beiden Zivis und die beiden Polizisten – in dem Tagesraum und brüteten dumpf vor sich hin.
Die scheinbar undurchdringliche Stille wurde erst nach einigen Minuten – oder waren es einige Sekunden? Niemand vermochte genau zu sagen, wie viel Zeit vergangen war – durch einen spitzen Aufschrei von Bettina unterbrochen.
Erschrocken blickten alle Anwesenden Bettina an und folgten mit den Blicken ihrem ausgestreckten Arm, der auf die Leiche einer Frau deutete, die neben ihrer Gehhilfe auf dem Boden lag.
Der Arm der Leiche bewegte sich langsam und schickte sich an, die Gehhilfe als Stütze zum Aufstehen zu verwenden.
13.
„Vielleicht sollten wir mal den Polizeiwagen folgen?“, schlug Dr. Kovacs vor. „Vielleicht finden wir ja
Weitere Kostenlose Bücher