Der Sommer der Vergessenen (German Edition)
anderen. Dies war das
Rathaus. Sein Glockenturm ragte steil in den Nachthimmel. Den Dachfirst zierte
die Figur eines bärtigen Mannes mit spitzem Hut. Er schwang einen Stab. Nein,
einen Zauberstab, korrigierte sich Grellon in Gedanken. In Nischen im dunklen
Mauerwerk des Hauses standen Skulpturen. Elfen und Zwerge, Ritter und Drachen.
Aber auch Dämonen mit bösen Grimassen und langen Klauen. Sie betraten das
Foyer. Den Fußboden schmückte ein großes Mosaik. Es stellte den See und die
Berge dar. An den Seiten des Raumes schwangen sich gewundene Treppen in die
Höhe. Sie führten auf eine hölzerne Empore, von der zu beiden Seiten Flure
abgingen. Die Treppen waren mit roten Teppichen belegt. Unter der Empore war
eine breite Holztür. Sie schwang auf. Heraus trat ein kleiner Mann im Frack.
Grellon musste an Pinguine denken. Der Mann setzte sich eine runde Brille auf
die spitze Nase und musterte sie unter halb geschlossenen Lidern. Das schüttere
Haar stand ihm wirr vom Kopf. Seine Wangen hingen herab wie die Lefzen eines Hundes.
„Sie wünschen?”, näselte er. Er deutete eine Verbeugung an. „Wir sind mit
Adalar verabredet, Ansbert”.
„Madame Farrah.
Ich habe Sie gar nicht erkannt.”
„Wie immer
Ansbert. Wie immer.”
„Folgen Sie
mir bitte in den großen Saal. Sie werden erwartet.” Ansbert schritt schwankend
voran, die Arme hinter dem Rücken verschränkt.
Grellon
seufzte. Sie betraten den großen Saal. Er war kreisrund. In der Mitte blieben
sie stehen. Grellon fühlte sich klein, umgeben von den erhöhten Rängen. Vor seinem
Kopf befand sich ein stattliches Rednerpult.
„Und wo
werden jetzt die Löwen reingelassen?”, scherzte er. Der Butler schloss wortlos
die Tür und war verschwunden. Mit ihm ging das Licht.
„Wieso muss
hier immer alles im Dunkeln passieren?”, ärgerte sich Grellon. Durch die bleiverglaste
Decke schien der Mond. Eine Tür quietschte. Schritte. Die Silhouetten zweier
Personen. Sie platzierten sich hinter dem Pult.
„Kinsella?“
Grellon sah,
dass eine Gestalt sich über das Pult beugte und in die Dunkelheit hinab spähte.
„Bist du
da?“
„Ich bin da.
Und ich weiß, dass du im Dunkeln gut sehen kannst, Adalar.”
„Erwischt”,
lachte Adalar. „Ich habe Ansbert gebeten, ein paar Kerzen zu bringen. Verzeih
die Umstände. Der große Saal ist nicht sehr gemütlich.”
„Nein, das
ist er wirklich nicht”, bestätigte Kinsella. „Aber es ist leider Vorschrift,
dass ordentliche Anhörungen hier stattfinden müssen.”
„Ich weiß.
Wer ist da bei dir?“
„Oh, entschuldige.
Hallimasch ist als Schreiber bei mir. Und Sie sind Herr Blutgut, richtig?“
Grellon
starrte verkniffen in die Dunkelheit. „Richtig. Ich grüße Sie.”
„Und ich
grüße Sie. Vielen Dank, dass Sie so schnell kommen konnten. Ich möchte Kjeir
jede Minute in Unfreiheit ersparen, wenn wir seine Unschuld beweisen können.”
„Das ist
ganz in meinem Sinne”, sagte Grellon.
„Wo ist Ihr
Sohn?”, fragte Hallimasch.
Grellon
erkannte die Stimme wieder.
„Rolo geht
es leider nicht so gut. Er ist nicht ernsthaft verletzt, kann sich aber an
nichts erinnern.”
„Das
erschwert die Sache natürlich”, raunte Adalar. „Ich vermute, Sie haben mit ihm
über die Geschehnisse gesprochen? Ja? Gut. Bitte erzählen Sie. Beginnen Sie mit
Ihrer Ankunft in Neunseen. Ruhig so detailliert wie möglich. Bitte!“
Und Grellon
berichtete. Während er sprach, kehrte Ansbert zurück und verteilte dreiarmige Kerzenständer
auf den Tischen. So sah Grellon Adalar zum ersten Mal. Sein Alter konnte er
unmöglich erraten. Er hatte langes, dunkles Haar, das zu einem lockeren Zopf
gebunden war. Seine Augen strahlten hell und aufmerksam im Schein der Kerzen.
Bartstoppeln gaben seinem Aussehen etwas Verwegenes. Er erinnerte Grellon ein
wenig an einen Kampfsporttrainer mit seiner luftigen Leinenkleidung und der
drahtigen Figur. Hallimasch saß mit gesenktem Haupt daneben. Er schrieb, und
seine geflochtenen Bärte schwangen bei jeder Bewegung. Er trug wieder den
großen Zylinder aber keine Brille. Kinsella hielt sich zurück, stand Grellon
jedoch zur Seite. Sie nickte aufmunternd, wenn sich ihre Blicke trafen. Hier
und da flüsterte Hallimasch Adalar etwas zu. Adalar stellte dann manche vertiefende
Frage oder wollte mehr Details wissen. Alles in allem empfand Grellon die
Atmosphäre jedoch als angenehm. Bis zu dem Moment, als die Neolinga den Raum
betraten. Die Tür knallte gegen die Wand, als wäre sie mit einem
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