Der Sommer der Vergessenen (German Edition)
was
sein.“ Socke las vor: „Und als die erste Sonne über dem ersten Berg aufging,
erschraken die Alben. Doch die Elben in ihrer Weisheit erklärten ihnen das
Prinzip von Licht und Schatten. Und die Alben verstanden es, denn sie hatten
gewaltig große Gehirne …“ Socke stutzte. „Was? Ich wollte der alten Geschichte
ein bisschen mehr Schwung geben“, rechtfertigte sich Driftwood.
„Und die
Alben beobachteten. Und sie sahen, dass alles in Bewegung war. Und sie
erkannten, dass kein Schatten ohne Licht sein kann. Und so entschieden sie
sich, für alle Zeiten dem Lauf der Sonne entgegengesetzt zu gehen. Das Licht im
Rücken, das den Pelz wärmt, dem Dunkel entgegen, das sie liebevoll umarmt. Dem
Lauf der Sonne entgegengesetzt. Die Sonne geht im Osten auf und wandert nach
Westen.“
„Das ist
jetzt aber sehr vage.“
Driftwood
schüttelte den Kopf. „Lies weiter.“
„Und sie
liefen durch Wüsten und Steppen, Berge und Täler. Sie liefen und liefen. Doch
am Ende ihres Weges waren sie da, wo er begonnen hatte. Da merkten sie, dass
sie keinen Ort hatten, den sie zuhause nennen konnten. Das machte die Alben
traurig, und sie weinten die ersten Tränen, die in der jungen Erde
versickerten. Die ersten Tränen fanden die ersten Samen im Boden und ließen sie
keimen. Und so erblühten die ersten Bäume vor den staunenden Augen der Alben.“
„Ich hätte
gewettet, dass die Elben die Bäume gemacht haben“, gab Rolo zu.
„Was du
immer redest“, wunderte sich Driftwood.
„Und die
Alben fanden einen Ort, den sie zuhause nennen konnten. Denn für alle Zeiten
wurde jener Ort unter dem dichten Blätterdach ihr Zuhause. Und sie nannten es
Wald. Und der Wald schützt vor der hellen Sonne. Er wirft Schatten. Er spendet
Nahrung. Er schützt vor neugierigen Blicken. Drum weiß jedes Kind, sollte es
verloren und allein sein, das es tief in den dunkelsten Wäldern Trost und
Schutz unter seinesgleichen finden wird. Gibt es noch viele Wälder da draußen,
Rolo?“
„Ja, schon.
Aber die sind fast alle voll mit Menschen, die Fahrrad fahren. Und so weit ich
weiß, ist das hier der Älteste.“
„Ich
blättere mal etwas weiter. Das nächste Kapitel heißt Pflegetipps für den
Pelz ?“ Socke blickte Driftwood fragend an.
„Weißt du
nicht mehr, wie viele Alben mit verlausten Pelzen herumliefen. Es war
ekelhaft“, erinnerte sich Driftwood.
So ging es
eine Weile weiter. Rolo erfuhr Einiges über Pelzpflege und die Geschichte der
Nachtalben. Aber vor allem Pelzpflege. Driftwood wurde nicht müde, sein Werk zu
loben, und Socke war sehr konzentriert bei der Sache. Immer wieder glaubten
sie, Hinweise für ihre bevorstehende Aufgabe zu finden. Aber bei genauerer
Betrachtung liefen sie ins Leere. So lasen sie viele Stunden in Driftwoods
Aufzeichnungen. Die Alben hatten zwischendurch Einiges zu diskutieren, und Rolo
hörte so viel von fremden Orten und Personen, dass er ganz wirr war im Kopf.
Kotze hockte nicht weit weg, doch niemand achtete auf ihn. Er brummelte oder
stellte die Ohren auf, als würde er Worten lauschen, die nur er hören konnte.
„Gut“, sagte Socke schließlich. „Das folgende Kapitel widmet sich den vier
großen Völkern.“ Leise begann er zu lesen. „Nein, das lese ich nicht vor!“
„Was ist denn?
Gib mal her.“ Driftwood zog das Buch zu sich herüber. „Es ist schon ein
schlechter Witz an sich, dass die mickrigen Halblinge zu den großen Völkern
gezählt werden. Ein Witz oder schlichtweg eine Beleidigung für das Nachtvolk.
Die Halblinge sind weder groß an Wuchs noch haben sie irgendwas zur Welt
beigetragen, was von Bedeutung wäre. Sie sitzen einfach nur Tag für Tag paffend
und trinkend in ihren Dörfern. Tratschend und faulenzend. Wenn ein Fremder des
Weges kommt, geraten sie ganz aus dem Häuschen. Vielleicht weiß der ja was, was
der Halbling noch nicht weiß. Und das muss der Halbling wissen, bevor es der
Halblingsnachbar erfährt. Dabei führen sie sich meist auf, als hätten sie
schlechtes Kraut geraucht. Der schlaue Autor empfiehlt, den aufdringlichen Halblingen
zu erzählen, dass wieder ein neuer Krieg vor der Tür steht. Das erschreckt sie,
und man kann seiner Wege ziehen. Des Weiteren kann der Autor dieser Zeilen sich
kaum entscheiden, was ihn mehr anekelt: Da wären zum einen die mordlustigen
Menschen. Sie vermehren sich schneller als die Kaninchen. Sie fressen ganze
Landstriche kahl wie die Heuschrecken. Wo ihr Fuß den Boden berührt, sprießen
ihre hässlichen Städte aus dem
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