Der Sommerfaenger
braute sich zusammen. Luke war es recht. Er fühlte sich matt und ausgelaugt und sehnte sich nach einem erfrischenden Regenguss.
Es widerstrebte ihm, diesen Ort zu verlassen, an dem er die Anwesenheit seiner Eltern zu spüren meinte, aber er empfand auch eine unbestimmte Angst. Sein Vater und seine Mutter waren tot.
Ihren Gespenstern war er vielleicht nicht gewachsen.
Als Nächstes fuhr Luke zum Staudamm hinaus, doch kaum war er aus dem Wagen gestiegen, begann er zu zittern.
Der Anblick des Wassers war zu viel für ihn.
Er spürte Jozefina neben sich, die Bewegung ihrer Hand an seiner, hörte ihre Stimme und fühlte ihren Atem am Ohr.
Wie oft waren sie zusammen hier gewesen.
»Wasser und Himmel«, hatte Jozefina einmal gesagt und in den Wind gelächelt, der ihr das Haar aus der Stirn gekämmt hatte. »Das ist Ewigkeit.«
Luke hatte es damals nicht kapiert und er verstand es noch immer nicht. Er hätte nachfragen müssen, und dass er das versäumt hatte, erfüllte ihn mit einer Trauer, die fast so groß war wie die Trauer um Jozefina selbst.
Niemand begegnete ihm auf dem Rückweg zu seinem Wagen, und das war gut so, denn Luke kämpfte mit seinen Erinnerungen und war froh, dass ihn niemand dabei beobachtete. Als die ersten Tropfen fielen, hielt er ihnen das Gesicht entgegen, damit sie jede verräterische Regung davon abwaschen konnten.
Jozefina zog sich zurück.
Und ließ ihn los.
Erst in diesem Moment starb Alexej wirklich.
Und machte Platz für Luke.
Er fuhr sich mit beiden Händen übers Gesicht. Wischte weg, was Regen sein konnte oder Tränen.
»Hi, Luke«, flüsterte er.
Jetzt wusste er, warum er hatte zurückkommen müssen.
*
Vor einem halben Jahr hatte Achim Penske seine erste Stelle als Koch in Kamenz angetreten. Er hatte von einem anderen Hotel geträumt und von einem anderen Leben. Berlin. Hamburg. Köln. Vielleicht sogar Amerika. So tief im Osten jedoch und ohne Geld musste man nehmen, was man kriegen konnte.
Und bleiben. Weil man nicht wegziehen wollte, wenn die Freundin im selben Haus ihre Ausbildung zur Hotelkauffrau machte.
Die Speisekarte, die sie hier anboten, war weder eine Offenbarung noch eine Herausforderung. Aber Achims Angebetete war beides, und manchmal überkam ihn das Verlangen, sie zu sehen, sie kurz an sich zu drücken und ihr ins Ohr zu flüstern, dass sie bei Weitem das Wunderbarste war, was er je zu Gesicht bekommen hatte, so heftig, dass er nicht widerstehen konnte.
Heute war es besonders schlimm, sodass er sich mitten während der Vorbereitungen fürs Mittagessen die Hände wusch und für ein paar Minuten abmeldete. Es war wenig Betrieb, deshalb beschloss er, den Fahrstuhl zu nehmen, obwohl der Chef es nicht gern sah, wenn das Personal ihn benutzte.
»Mist!«
Der abwärts gerichtete Pfeil leuchtete auf, doch es tat sich nichts, und Siri arbeitete laut Dienstplan jetzt gerade in den Zimmern im dritten Stock. Achim stöhnte und nahm den Weg durch das enge, rot gestrichene Treppenhaus, das in seiner Düsterkeit jeder lebendigen Pflanze den Garaus gemacht hätte und deshalb mit künstlichen Orchideen, Rosen und Gladiolen geschmückt war.
Lediglich auf dem ersten Treppenabsatz starb der traurige Rest eines echten Gummibaums langsam vor sich hin.
Vielleicht würde er Siri heute Abend ins Kino einladen, überlegte Achim. Oder sie konnten sich einen alten James Bond anschauen. Er hatte sie alle zu Hause. Roger Moore gefiel ihm in der Rolle des Geheimagenten am besten. Siri hatte sich noch nicht entschieden, wen sie am liebsten mochte. Sie tendierte zu Sean Connery.
Achim war sich nicht mal sicher, ob sie die Filme nicht hauptsächlich ihm zuliebe guckte.
Okay, dachte er. Dann doch besser Kino. Siri sollte sich den Film aussuchen, und er würde ihre Wahl klaglos akzeptieren, selbst wenn sie auf eine dieser unsäglichen Herzschmerzschnulzen fallen sollte.
Als er sich der zweiten Etage näherte, hörte er ein Geräusch, das er im ersten Moment nicht einordnen konnte. Dann merkte er, dass es vom Fahrstuhl herrühren musste.
Also klemmte das Ding wieder. Dabei war erst letzte Woche jemand da gewesen, um ihn zu reparieren. Alle naselang mussten sie die Wartungsfirma anrufen. Der Chef würde toben, wenn er erfuhr, dass schon wieder was nicht stimmte.
Im zweiten Stock leuchtete der nach unten gerichtete Pfeil ebenfalls. Das Geräusch war lauter geworden. Es schien von ganz oben zu kommen.
Die Kälte, die ihm unvermittelt unter die Haut kroch, nahm Achim die Luft. Er
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