Der Sommerfaenger
stürzte die restlichen Stufen hinauf, voller Angst, die er sich nicht erklären konnte.
Tack. Tack. Tacktack.
Die Tür des Fahrstuhls, die sich nicht schließen konnte, weil etwas sie daran hinderte.
Tack. Tack. Tacktack .
Als Achim oben ankam, war er schweißgebadet. Er zwang sich, stehen zu bleiben und kräftig durchzuatmen, bevor er vorsichtig um die Ecke lugte.
Ein Bein ragte aus der Fahrstuhlkabine in den Flur hinaus.
Nackte Haut, von der Sonne gebräunt, ein Muttermal oberhalb des Knöchels. Der Fuß, der mit einem weißen Leinenschuh bekleidet war, wies mit der Spitze nach außen. Und die Tür des Fahrstuhls wollte aufgehen und zu, auf und zu.
Unaufhörlich.
Auf.
Zu.
Auf.
Zu.
Achim registrierte noch, dass es das rechte Bein war, das er sah, dann war er schon im Fahrstuhl und neben dem Körper auf die Knie gefallen.
Sie blickte an ihm vorbei, doch ihr Blick hielt nichts fest. Er verlor sich irgendwo hinter Achims Schulter. Eine Strähne ihres frechen roten Haars hatte sich zwischen ihren leicht geöffneten Lippen verfangen. Sie machte das blasse Gesicht noch bleicher und Achim strich sie behutsam fort.
»Siri …«
Tack. Tack. Tacktack .
Achim streckte sich und drückte verzweifelt auf sämtliche Knöpfe, um das widerliche Geräusch zum Schweigen zu bringen. Es funktionierte nicht. Behutsam hob er Siri auf und legte sie auf dem weichen Flurteppich nieder.
Die Tür des Fahrstuhls schloss sich.
Endlich.
Der Fahrstuhl fuhr abwärts.
Achim sank neben Siri zu Boden und zog sie an sich.
Ihr Kopf ruhte schwer auf seinem Schoß. Hilflos streichelte er ihr Haar und hörte seinem eigenen Herzschlag zu.
Es war still hier oben, das Hotel so gut wie leer. Erst gegen Nachmittag würde es sich wieder mit Gästen und ihren Geräuschen füllen. Lediglich im Restaurant würde bereits ab Mittag Betrieb sein.
Tote Zeit, dachte Achim. Stunden, in denen alles den Atem anzuhalten schien. In denen das Hotel düster und reglos ausharrte, bis fremde Menschen es erlösten und wieder zum Leben erweckten.
Sein Blick fiel auf Siris Hals. Zärtlich fuhr er mit der Kuppe seines Zeigefingers den Würgemalen nach, die er ohne das Licht im Fahrstuhl nur erahnen konnte. Sie erzählten die Geschichte, die sein Leben von einem Moment zum andern in Schutt und Asche gelegt hatte.
Die Geschichte ihres Sterbens.
Denn dass Siri tot war, hatte er vom ersten Augenblick an gewusst.
»Nach Schottland wollte ich mit dir fahren«, gestand er ihr leise. »Um die Highlands zu sehen. Und Loch Ness natürlich. Du hast an alles geglaubt, was geheimnisvoll war, und ich hab bloß so getan, als würd ich dich deswegen auslachen. In Wirklichkeit hab ich dich dafür nur noch lieber gehabt …«
Seine Stimme versagte. Er sehnte sich nach Tränen, aber seine Augen blieben trocken. Sacht drückte er Siri an sich.
»Lass mich nicht allein.«
Ihre weiße Bluse war bis zum Bauchnabel aufgerissen. Er mühte sich mit den winzigen Knöpfen ab, um sie wieder zu schließen. Aber seine Finger waren zu plump und er konnte sich nicht konzentrieren, und weil es ihm nicht gelang, brach er in ein tränenloses Schluchzen aus, das ihm den Magen umstülpte.
Dann fühlte er, dass in der Tasche ihrer Bluse etwas verborgen war. Mit spitzen Fingern zog er einen zusammengefalteten Zettel heraus.
Zuerst fiel sein Blick auf ein Smiley. Dann auf die Worte.
NUMMER DREI .
Und endlich kamen die Tränen. Sie tropften auf den Zettel in seiner Hand und ließen die Schrift verschwimmen.
*
Schon von Weitem fielen Luke die Polizeiwagen auf und er fuhr instinktiv am Hotel vorbei. Einen Block weiter stellte er seinen Wagen ab und lief zum Hotel zurück. Ein wenig abseits standen Zeitungsleute, die Bilder schossen. Schaulustige hatten sich versammelt.
Luke gesellte sich zu ihnen. Während er überlegte, ob er jemanden ansprechen sollte, entdeckte er das Mädchen aus dem Hotel, das aus dem Nachteingang schlüpfte. Da sich die allgemeine Aufmerksamkeit auf die Polizisten am Haupteingang richtete, fiel es niemandem auf.
Sie war fast schon bei dem kleinen Hotelparkplatz angelangt, als Luke sie einholte.
»Was ist passiert?«, fragte er und zeigte mit dem Daumen nach hinten, als wüsste sie nicht selbst am besten, was sich da abspielte.
»Jemand …« Ihre Lippen zuckten. »Jemand hat Siri umgebracht.«
Mit flatternden Fingern wischte sie sich Tränen und aufgelöste Mascara unter den Augen fort.
»Sie war siebzehn und meine Freundin und … und sie hat keiner
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