Der Sonntagsmann
brauchst ein bisschen Abwechslung«, entschied er. »Vielleicht können wir wieder in der Jugendherberge wohnen. Mal wieder zu duschen wäre gar nicht übel.« Kari strich ihm über die Wange, was ihn mit einem wahnsinnigen Glücksgefühl erfüllte.
Keinem von beiden fiel das Auto auf, das ihnen folgte, als sie von dem Einkaufszentrum wieder auf die Landstraße bogen.
41. KAPITEL
Die Straße flitzte unter den Rädern nur so dahin. Örebro, Karlskoga, Karlstad, Årjäng, über die Grenze, von Süden nach Oslo rein. Sie war früh losgefahren, und es war erst Viertel vor eins an diesem Samstag, dem 25. September. Elina versuchte sich daran zu erinnern, wann sie zuletzt in Oslo gewesen war. Es war lange her, und prompt verfuhr sie sich. Sie hielt an einer Tankstelle, kaufte einen Stadtplan und fragte nach dem Weg. Die Straße lag im Osten der Stadt. Ein großes Backsteinhaus an der Normannsgate hatte Grace gesagt, gegenüber der Kampens Schule.
Nachdem sie sich mehrmals verfahren hatte, hielt sie endlich vor dem Haus. Der Name stand unter der Klingel. Dritter Stock. Elina klingelte, und die Tür ging auf. Als sie die Treppe hochkam, erwartete sie eine Frau in der offenen Tür. Sie lächelte und hielt ihr die Hand hin.
»Grace Makondele«, sagte sie und führte Elina in die Wohnung. Sie nahmen in einem kleinen Wohnzimmer auf dem Sofa Platz. An der Wand hing ein Porträt von Nelson Mandela. Die beiden Frauen betrachteten sich eine Weile lang neugierig und schwiegen. »Sie wollten mir etwas zeigen«, sagte Elina schließlich. Grace Makondele nickte. Sie erhob sich und öffnete eine Tür.
»Kommst du?«
Elina hörte, wie ein Stuhl zurückgeschoben wurde. Dann erschien ein Mädchen in der Tür. Ihre Hautfarbe lag zwischen Grace Makondeles dunkler und Elinas heller Tönung. Genau die Farbe, die das Kind gehabt hatte, das Elina sich gemeinsam mit Martin zusammenfantasiert hatte.
»Hallo«, sagte das Mädchen und lächelte strahlend. Sie war eine umwerfende Schönheit, und besaß die hohen Wangenknochen und schrägen Augen ihrer Mutter.
»Wir wollen dich nicht länger stören«, sagte Grace Makondele. Das Mädchen ging zurück in ihr Zimmer und machte die Tür hinter sich zu.
»Das ist meine Tochter Mary«, sagte Grace Makondele. »Sie besucht das Gymnasium. Ich wollte, dass sie zu Hause ist, wenn Sie kommen. In zwei Monaten wird sie achtzehn. Dann wird ihr Vater zum letzten Mal für sie bezahlt haben.«
Elina verstand. Grace Makondele musste ihr nicht erst sagen, wer der Vater war. »Hat sie ihn schon mal getroffen?«, fragte Elina.
»Nein. Er hat nie Kontakt mit uns aufgenommen, und sie wollte nicht. Bisher jedenfalls nicht. Vielleicht tut sie es, wenn sie erwachsen ist. Das ist dann ihre Sache.«
»Was ist damals passiert?«
Grace Makondele wandte den Blick ab und schaute aus dem Fenster. Ihr Blick verlor sich in der Ferne. »Ich war in Johannesburg an einem Ausbildungsprojekt für Kinder aus Soweto beteiligt, das einen Sommer und einen Herbst lang dauerte. Ulf war der Leiter, und ich kümmerte mich um das Telefon und solche Dinge. Ich war erst neunzehn.« Grace deutete auf die Tür. »Ungefähr so alt wie sie. Er war doppelt so alt, und er wollte mich. Ich hatte Angst, die Arbeit zu verlieren. Sie müssen wissen, dass wir damals vollkommen verunsichert und eingeschüchtert waren. Die Weißen hatten uns immer schon ausgenützt. Als das Projekt beendet war, dachte ich, er würde mich fallen lassen, aber er besorgte mir einen Platz an der Entwicklungshilfeschule. Mir war klar, dass er das seinet- und nicht meinetwegen tat, aber für mich war das eine Chance, die nie wiederkehren würde. Obwohl ich dafür bezahlen musste … sie verstehen, was ich meine? Norwegen gefiel mir, ich wollte bleiben, ich wollte nicht in die Apartheid zurück.«
Sie lächelte Elina an. »Haben Sie Kinder?«, fragte sie.
Elina schüttelte den Kopf.
»Als ich schwanger wurde, versuchte er mich zu einer Abtreibung zu zwingen«, sagte Grace Makondele, »aber ich weigerte mich.«
»Warum?«
»Ein Grund war der, dass ich hierbleiben wollte. Das war natürlich nicht der einzige. Mit einem Kind würde ich die Genehmigung eher bekommen, dachte ich. Aber er begann, mich zu bedrohen. Wenn ich nicht abtreiben ließe, würde er dafür sorgen, dass ich ausgewiesen würde. Er wisse schon, wie, sagte er. Er wurde immer bedrohlicher. Zum Schluss versteckte ich mich bei einer Freundin, bei einem Mädchen, das dieselbe Schule besuchte. Sie
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