Der Spion und die Lady
Minuten verpaßt.«
»Hervorragend! Hatte man auf der Bank irgendeine Ahnung, wo er wohnt?«
»Bedauerlicherweise nicht, aber zumindest wissen wir nun, daß er in London angekommen ist und nicht versucht, der Entdeckung zu entgehen. In ein oder zwei Tagen sollte ich seinen Aufenthaltsort ausfindig gemacht haben, und er wird wissen, wo sich deine Nichte aufhält.«
Desdemona wollte gerade etwas erwidern, als ihr Dienstmädchen eintrat und höflich knickste.
»Entschuldigen Sie, Mylady, aber Miss Maxima Collins und Lord Robert Andreville sind hier, um Ihnen ihre Aufwartung zu machen.« Leicht abfällig rümpfte das Mädchen die Nase. »Keiner von beiden verfügte über ordentliche Visitenkarten.«
Desdemona öffnete den Mund und schloß ihn nicht wieder. Sie riß sich zusammen und sagte:
»Führen Sie sie herein, Alice.«
Eine Minute später kam das Objekt ihrer langen Verfolgungsjagd in den Salon geschlendert.
Desdemona war gesagt worden, daß ihre Nichte zierlich, dunkel und attraktiv sei, aber diese Beschreibung entsprach der Realität nur sehr unzulänglich. Die junge Dame mit den rabenschwarzen Haaren, die über ihre Schwelle trat, war zierlich, selbstbewußt und hatte ein Gesicht, das ihrer wohlgeformten Figur perfekt entsprach. Trotz ihres schlichten Musselinkleides wirkte Maxima Collins keineswegs wie ein Blümchen Rührmichnichtan. Sie sah auch nicht so aus, als würde sie sich sehr leicht die Butter vom Brot nehmen lassen.
Ähnlich verblüfft betrachtete Maxie ihre hochgewachsene, rothaarige Tante. Amüsiert dachte Desdemona, daß sie wie zwei Katzen wirken mußten, die einander sichernd erkundeten.
»Ich hoffe, du verzeihst mir mein
unangekündigtes Eindringen, Tante Desdemona.«
Sie deutete auf ihren Begleiter. »Das ist mein Freund Lord Robert Andreville. Robin – Lady ROSS.«
Desdemona warf dem Begleiter ihrer Nichte einen flüchtigen Blick zu, dann noch einen, der sich zu einem regelrechten Starren auswuchs. Der blonde Lord Robert wirkte wie ein Gentleman, nicht wie ein Schurke, und sah gut genug aus, um jedes Frauenherz in Wallung zu versetzen. Kein Wunder, daß das Mädchen mit ihm durchgebrannt war.
Er verneigte sich vor seiner Gastgeberin. »Ihr ergebener Diener, Lady ROSS.« Dann richtete er sich mit einem Lächeln auf, das eine empfänglichere Frau einer Ohnmacht nahegebracht hätte.
Doch Desdemona war nicht empfänglich, zumindest nicht im Augenblick. Sie bedachte Robin mit einem düster drohenden Blick und einem knappen Nicken. »Mein liebes Mädchen«, sagte sie zu ihrer Nichte, »ich bin ja so froh, dich endlich zu sehen. Ich habe mir große Sorgen um deine Sicherheit gemacht.«
»Warum denn nur?« erkundigte sich Maxie mit riesengroßen, unschuldigen Augen.
Hinter sich hörte Desdemona den Marquis glucksen. Aus dem Augenwinkel sah sie, daß er sich ungemein amüsierte.
Lord Robert hatte die Anwesenheit seines Bruders noch gar nicht bemerkt. Das Lachen veranlaßte ihn jetzt, sich im Raum umzusehen. »Giles! Was für ein Zufall. Ich wußte weder, daß du nach London fahren wolltest, noch daß du Lady ROSS
kennst.«
»Ich kannte die Lady nicht, noch war diese Reise geplant«, entgegnete Wolverhampton. »Für beides bist du verantwortlich.«
»Tatsächlich?«
»Lady ROSS und ich sind – getrennt und gemeinsam – in den vergangenen zwei Wochen quer durch ganz England gehetzt, um euch zu finden«, erläuterte der Marquis. »Und jetzt marschiert ihr hier ganz seelenruhig herein, als wolltet ihr einer älteren Tante eine Morgenvisite abstatten.«
»Tante Desdemona ist nicht ›ältlich‹«, stellte Maxima fest.
»Vielen Dank«, murmelte die unältliche Tante und hatte das Gefühl, daß die Situation zusehends außer Kontrolle geriet. Obwohl – war sie eigentlich je unter Kontrolle?
»Das habe ich ausschließlich symbolisch gemeint.« Giles lächelte Desdemona liebevoll an.
»Es ist mir durchaus nicht entgangen, daß sie keineswegs ältlich ist. Miss Collins, da absolutes Durcheinander an der Tagesordnung zu sein scheint, darf ich mich Ihnen vielleicht vorstellen.
Ich bin Wolverhampton, der ältere Bruder Ihres verantwortungslosen Begleiters.«
»Oh, ja«, erwiderte Maxie versonnen, »derjenige, der, wenn er stirbt – was Gott verhindern möge –
Robin unverzüglich in den Adelsstand versetzen würde.«
Verdutzt ließ sich Giles das alles noch einmal durch den Kopf gehen. Dann nickte er. »Exakt.«
»Ich glaube, wir sollten uns alle erst einmal setzen und Kaffee
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