Der Spion und die Lady
Fragen an den richtigen Orten zu stellen. Die kleinen Dörfern, in denen kein Fremder unbemerkt blieb, waren die besten Informationsquellen und die besten Informanten ältere Leute, die in den örtlichen Schenken zusammenhockten. Auch Händler und Geschäftsinhaber waren nicht schlecht.
Zum dritten Mal an diesem Tag betrat Desdemona das einzige Geschäft einer winzigen Ortschaft.
Diesmal in. Wingerford. Der Laden hielt das übliche Sammelsurium an Kurzwaren, Stoffen, Keramikwaren, Salz, Zucker, Mehl und Süßigkeiten für Kinder bereit. Eine braunrot getigerte Katze schnarchte friedlich auf einem Haufen gebrauchter Kleidung.
Bei Desdemonas Eintritt eilte die stämmige Ladenbesitzerin beflissen herbei, um ihre elegant gekleidete Besucherin zu begrüßen. »Womit kann ich Euch dienen, Mylady?«
»Ich frage mich, ob Sie vielleicht in den letzten Tagen meine Nichte und ihren Ehemann hier im Ort gesehen haben. Sie ist dunkelhaarig, ziemlich klein und wie ein Junge gekleidet. Er ist von durchschnittlicher Größe, sehr blond und gutaussehend.«
»Aye, sie waren gestern hier.« Die Frau musterte Desdemona mit wachsamer Neugierde. »Der Gentleman hatte sich sein Hemd zerrissen und brauchte ein neues.« Sie hüstelte verstohlen. »Er benötigte auch einen Hut und ein wenig Unterwäsche. Ich konnte ihm zwar
bedauerlicherweise nicht annähernd so etwas Feines bieten, wie er am Leibe trug, aber er schien recht zufrieden zu sein.«
Desdemona begann mit ihrer vorbereiteten Erklärung. »Das alles ist ziemlich absurd. Der Ehemann meiner Nichte hat unsinnigerweise gewettet, zu Fuß nach London zu wandern, und das Mädchen beschloß, ihn zu begleiten. Sie sind noch nicht lange verheiratet, und sie hielt das Ganze offenbar für einen großen Spaß.
Selbstverständlich war ich ganz und gar nicht einverstanden, aber verbieten konnte ich es ihnen schließlich nicht.«
Sie seufzte tief und bekümmert auf. »Vermutlich wäre alles gar nicht so schlimm, wenn den Vater des Mädchens nicht plötzlich eine ernsthafte Krankheit befallen hätte. Jetzt versuchen wir, meine Nichte zu erreichen, damit sie zu ihrem Vater zurückkehrt, bevor es vielleicht zu spät ist.«
Desdemonas Stimme zitterte leicht. Wenn sie diese Geschichte noch häufiger erzählte, würde sie noch irgendwann selbst daran glauben.
»Hat meine Nichte oder ihr Mann vielleicht erwähnt, welche Route sie von hier aus nehmen wollen?«
»Ist das so?« Die Ladenbesitzerin hob die Brauen.
Ihre Miene verriet, daß sie ernste Zweifel am Wahrheitsgehalt der Schilderung hatte, aber nie im Traum daran denken würde, ihre vornehme Besucherin der Lüge zu bezichtigen.
Es war an Desdemona, den nächsten Schritt zu tun. Eine unverblümte Bestechung könnte eine einfache, aber aufrechte Frau wie diese da womöglich vor den Kopf stoßen. Etwas Sensibleres war vonnöten. Sie blickte sich im Laden um, bis sie ein passendes Objekt gefunden hatte. »Oh, was für ein wundervolles Band. Seit einer Ewigkeit suche ich nun schon nach genau diesem Blau.« Sie zog die Rolle mit dem Band aus dem Regal. »Wäre es denkbar, daß Sie es mir für
– sagen wir fünf Pfund verkaufen?«
»Fünf Guiness, und es gehört Euch.« Das spöttische Glitzern in den Augen der Ladenbesitzerin deutete an, daß sie sich der eigentlichen Absicht der geschäftlichen Transaktion durchaus bewußt war.
»Ausgezeichnet«, verkündete Desdemona begeistert, als wüßte sie nicht, daß der wahre Wert des Bandes weit unter einem Pfund lag.
Die Ladenbesitzerin wickelte das Band in einen Bogen schon einmal benutzten Papiers. »Ganz zufällig hörte ich das junge Paar miteinander sprechen. Vom Viehtrieb.«
»Vom Viehtrieb?« fragte Desdemona perplex.
»Aye, westlich von hier verläuft eine Treiberroute.
Vielleicht wollten sie mit den Treibern weiterziehen. Es wäre nicht das erste Mal, daß feine Leute so etwas für ein Abenteuer halten.«
Desdemona schürzte die Lippen. Das hörte sich durchaus glaubhaft an, auch wenn es ihre Verfolgung weiter komplizierte. »Könnten Sie mir erklären, wie ich zu dieser Treiberroute gelange?«
Der Blick der Ladenbesitzerin wanderte zur Hand ihrer Kundin. Desdemona überreichte das Geld und erhielt eine ausführliche Wegbeschreibung.
Bevor sie den Laden verließ, stellte sie noch eine Frage: »Welchen Eindruck hatten Sie von meiner Nichte und ihrem Mann?«
Die Besitzerin zuckte mit den Schultern.
»Schienen ganz prächtig miteinander auszukommen. Jedenfalls lachten sie
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