Der Spion und die Lady
Teilen Großbritanniens herangeschafft werden.« Er säuberte die Messerklinge mit einem Büschel Heu von Seife und Bartstoppeln, um sich dann der anderen Wange zu widmen. »Das meiste Fleisch, das in London verzehrt wird, kommt aus Schottland und Wales.«
»Aus Schottland?« Maxie hob erstaunt die Braunen. »Dann muß es ja ziemlich zäh sein, wenn es endlich eintrifft.«
»Die Tiere werden für gewöhnlich auf Weiden im Süden der Stadt gemästet, bevor sie auf den Markt gebracht werden«, erklärte er. »Und es werden nicht nur Rinder nach London getrieben, sondern auch Schafe, Gänse, Schweine, sogar Truthühner – wenn auch nicht über allzu große Entfernungen.«
»Und wie treibt man Truthühner?« wollte sie wissen.
»Unter großen Schwierigkeiten«, erwiderte er augenzwinkernd. »Das ist vielleicht ein Anblick.
Am Abend machen es sich die Puten dann in den Zweigen der Bäume bequem – buchstäblich Hunderte von ihnen.«
Entzückt stellte sich Maxie vor, daß sich Baumäste unter der Last schlafender Truthühner bogen. Es lenkte sie wohltuend von Robins Gesichtszügen ab. »Und was hat das mit uns zu tun?«
»Die Treiber halten sich soweit wie möglich an freies Gelände und vermeiden Straßen, auf denen Wegezoll erhoben wird. Dann und wann begleiten Wanderer die Treiber, weil sie Gesellschaft und Sicherheit suchen. Manchmal auch nur aus Vergnügen am Ungewöhnlichen.« Nachdem er mit den Wangen fertig war, schob er das Kinn vor und rasierte sich den Hals.
Fasziniert sah Maxie zu, wie ihm ein glitzernder Wassertropfen über den Hals rann, weiter hinunter und in der Brustbehaarung verschwand.
Ihr Blick entging ihm nicht. »Stimmt etwas nicht?«
»Weibliche Empfindlichkeit«, erwiderte sie schnell.
»Es macht mich nervös, ein Rasiermesser so nahe an einer Kehle zu sehen.«
Er schmunzelte. »Bisher habe ich mir noch keine ernsthaften Schäden zugefügt.« Er beendete seine Tätigkeit mit drei behenden
Handbewegungen, wischte die Klinge ab und klappte das Messer wieder zusammen.
»Die Vorzüge sind ersichtlich«, meinte Maxie und war froh, dem Anblick sinnlicher Männlichkeit nicht länger ausgesetzt zu sein. »Gibt es hier in der Nähe irgendwelche Treiberrouten?«
»Eine verläuft westlich von Nottingham, zwei Tage von hier entfernt. Zu dieser Jahreszeit besteht eine gute Chance, daß wir innerhalb kurzer Zeit auf Treiber stoßen.«
»Sind Sie schon einmal mit Treibern unterwegs gewesen?«
»Ja. Deshalb ist mir diese bestimmte Route bekannt.« Er tauchte ein Tuch in das warme Wasser, wrang es aus, wusch sich Gesicht und Hals. »Als ich von Zuhause fortlief, traf ich auf eine Gruppe Viehtreiber.«
Das klang so, als könnte es wahr sein. »Sie müssen Ihrer Mutter mehr als einmal schlaflose Nächte bereitet haben.«
Nach längerer Pause sagte er: »Überhaupt nicht.
Nach meiner Geburt warf sie einen Blick auf mich und verlor prompt und schockiert das Bewußtsein.«
Die betonte Unbekümmertheit konnte den Hauch von Schmerz nicht übertönen. »Das tut mir leid«, sagte sie leise.
»Nicht so leid wie meinem Vater.« Robin nahm den Wassertopf, trat vor die Tür und schüttete das Rasierwasser fort. »Den Bildern zufolge sehe ich genauso aus wie sie. Er konnte mich nicht ansehen ohne zusammenzuzucken.«
Am liebsten hätte sie aus Mitgefühl für das Kind Robin geweint, aber statt dessen fragte sie ruhig:
»Warum erzählen Sie mir das?«
Er schwieg sehr lange. Sein Profil wirkte so kühl und abweisend wie der graue Himmel. »Ich weiß nicht, Kanawiosta. Vielleicht bin ich es manchmal leid, alles über mich zu verbergen.«
Ihn den Namen nennen zu hören, den ihr ihre Mutter gegeben hatte, schickte ihr einen leichten Schauer über den Rücken. Zum erstenmal hatte er ihr freiwillig etwas anvertraut, was unter seinem glatten, undurchdringlichen Äußeren verborgen lag. Vielleicht lag das daran, daß sie am Abend zuvor so viel von sich selbst preisgegeben hatte. Vielleicht hatte aber auch die so nahe verbrachte Nacht etwas von den Barrieren beseitigt, die sie voneinander trennten.
Erleichtert nahm Desdemona Lord
Wolverhamptons Botschaft zur Kenntnis, daß die Ausreißer auf der Rotherham Road gesehen worden waren. Zumindest ging es den beiden den Verhältnissen entsprechend gut. Nähere Hinweise hatte sie von dem Marquis jedoch nicht erhalten.
Sie würde die Flüchtigen also auf eigene Initiative verfolgen und Nachforschungen anstellen müssen.
Inzwischen hatte sie gelernt, die richtigen
Weitere Kostenlose Bücher