Der Spitzenkandidat - Roman
Viertel des 20. Jahrhunderts wies verspielte Erkertürmchen und Stuckarbeiten auf. Den hohen Räumen fehlte es an Licht, besonders im Erdgeschoss. Mit den Jahren war es auch eng geworden, doch der Umzug in ein neues Hauptquartier wurde immer weiter hinausgeschoben. Die Partei war seit Langem verschuldet, überall musste gespart werden. Seit der Finanzkrise flossen auch die Sponsorengelder der Wirtschaft nur noch spärlich. Genau genommen war Baumgart derzeit der einzige Großsponsor, wobei der Begriff „Geschäft auf Gegenseitigkeit“ es besser getroffen hätte. Die Spenden des Großinvestors versetzten die Partei zwar in die Lage, aufwendige Werbekampagnen zu finanzieren, doch der Unternehmer forderte seinen Preis, auch wenn der erst nach der Wahl fällig werden würde. Baumgart war seit Jahren auf das Gelände in Ricklingen scharf, das seit mehr als 50 Jahren an Kleingärtner verpachtet wurde. Sollte die Bürgerpartei die Wahl gewinnen, würde die Landesregierung den Deal mit Baumgart machen. So war es zwischen Stein und ihm ausgemacht und daran würden auch Steins Parteifreunde sich halten.
Auch das Büro des Vorsitzenden strömte eine düstere Atmosphäre aus. Dazu kam, dass sich nie eine geschmackvolle Hand um die Verschönerung gekümmert hatte. Repariert wurde nur, was kaputt war, so war mit der Zeit ein Flickenteppich der Stile und Farben entstanden.
Dass eine Klimaanlage fehlte, ließ sich in diesen Tagen jedoch nicht ignorieren. Obwohl die Fenster morgens aufgerissen wurden, fiel die Temperatur in den Räumen nicht unter 26 Grad. Spätestens mittags mussten die Fenster wieder geschlossen werden.
Bernd Wagner wischte sich die Stirn und tigerte in seinem Büro hin und her. Das Sofa und die Sessel für Besucher waren nur noch zu erahnen. Plakate, massenhaft T-Shirts in diversen Größen, Kartons mit Flyern, Kugelschreiber, Skatspiele mit Uwe Stein als Kreuz Bube und Parteichef Bitter als Herz König, Fähnchen in den Landesfarben, Kappen für Kinderköpfe: gestern noch begehrte Wahlkampf-Gimmicks, die von den Ortsvereinen der Partei angefordert wurden. Über Nacht war daraus Müll geworden, Nahrung für den Schredder.
Der Wahlkampf war beendet und ihm, dem engagierten, einfallsreichen Wahlkampfmanager, war der Boden unter den Füßen weggezogen worden. Über Nacht war der Kandidat abhanden gekommen.
Wagner war gerade erst gekommen, als plötzlich die Stigler, die kurz nach ihm aus der Staatskanzlei in die Parteizentrale gewechselt war, in seinem Büro gestanden und die Todesnachricht überbracht hatte. Im ersten Moment hatte Wagner sie gar nicht verstanden. Er hatte Albi für das Opfer gehalten, den Vorsitzenden. Aber er hatte ja auch nicht mitbekommen, dass ein Gewaltverbrechen vorlag. Sein erster Gedanke war gewesen: Herzinfarkt, man hätte damit rechnen müssen. Albi trieb seit Jahren Raubbau mit seiner Gesundheit, trank und aß zu viel, rauchte wie ein Schlot, zu wenig Schlaf und Bewegung sowieso. Und nun hatte es den disziplinierten Stein getroffen. Die Nachricht war durch alle Büros gerast, auf den Fluren standen die Mitarbeiter, betretene Mienen und Fassungslosigkeit in den Gesichtern. In manchen auch Trauer, Stein war nicht väterlich wie Albi gewesen, aber der Erfolg, den er in die angestaubte Parteizentrale gebracht hatte, hatte viele begeistert. Die Partei hatte vier Wochen vor der Landtagswahl ihren besten Mann verloren.
Es war viel telefoniert worden, mit den offiziellen Stellen, aber auch mit den Auskunftgebern, von denen man sich Details versprach. Den Parteivorsitzenden hatte man im Landkreis Nienburg erreicht. Als auf den Fluren Hektik entstand, wusste Bernd Wagner, dass die Phase der Krisenkonferenzen begonnen hatte.
Endlich kreuzte Albi auf. Er wirkte angeschlagen. Sein Gesicht glänzte rot, die schütteren Haare waren zerzaust, als wäre er die Strecke mit offenem Verdeck gefahren. Albi war gesellig – ein Teil seines Erfolges und seiner Beliebtheit. Wenn er an einer Veranstaltung teilnahm, fing der Abend mit dem Ende der Veranstaltung erst an. Die Umtrünke mit Albi waren legendär; wer in der Partei dazu geladen wurde, durfte sich etwas darauf einbilden. Im Zuge stundenlanger Runden war manche Karriere auf Touren gekommen – nicht selten aber auch abrupt beendet worden. Albi war ein großer Strippenzieher. Ausgestattet mit einem grandiosen Namensgedächtnis, verstand er es, auch dem kleinsten Parteimitglied das wohlig warme Gefühl zu geben, ein leuchtendes Licht zu
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