Der Sprung ins Jenseits
abzuschneiden. Als das seiner Meinung nach geschehen war, kam er noch vier oder fünf Schritte näher. Er schien sich darüber zu ärgern, daß wir einfach auf dem Boden liegenblieben, die Rucksäcke unter dem Kopf.
»Aufstehen!« befahl er barsch.
Yü nickte mir zu und erhob sich mit aufreizender Langsamkeit. Ich folgte seinem Beispiel und tröstete mich mit dem Gedanken, so gut wie kein Geld zu besitzen. Wer nichts hatte, dem konnte man auch nichts abnehmen.
»Was willst du von uns?« erkundigte sich Yü freundlich.
Für einen Augenblick sah es so aus, als wollte sich der Kerl mit dem Schnurrbart auf Yü stürzen, aber dann sagte er:
»Ihr habt Geld bei euch, denn ich habe noch keine armen Mönche gesehen. Her damit, wenn euch euer Leben lieb ist. Dann lassen wir euch laufen. Wenn ihr euch weigert, werfen euch meine Leute in die Schlucht.«
»Wir weigern uns durchaus nicht, lieber Freund – nur: wir haben kein Geld. Wir sind arm. Ein paar Kupfermünzen, das ist alles.«
»Und was habt ihr in den Fellsäcken?«
»Brot, hoher Herr. Ihr werdet uns doch kein Brot abnehmen wollen. Wäre das nicht unter eurer Würde?«
»So, Brot also!« Die Stimme des Anführers verriet Unglauben. »Brot hat auch seinen Wert für uns. Öffnet die Säcke, aber schnell.«
Ich stand neben Yü, dessen gespielte Ruhe mir bald mehr auf die Nerven ging als den Banditen. Wir hatten noch einen langen Marsch vor uns, und wenn man uns Brot und Wasser abnahm, waren wir so gut wie verloren. Auf der anderen Seite war es glatter Selbstmord, sich mit den Kerlen anlegen zu wollen.
»Nimm dir den Sack, wenn du keine Angst hast«, sagte Yü zu meinem Entsetzen.
Mir schien, als wolle er das Schicksal herausfordern, aber mir war nicht klar, welchen Sinn das haben sollte. Wenn ihm jetzt etwas zustieß, war ich allein. Und die Kerle, die uns überfallen hatten, sahen gar nicht danach aus, als würden sie sich auf langwierige Verhandlungen einlassen wollen.
»Sollen wir ihm das Maul stopfen?« fragte einer der drei, die den Weg bewachten. »Der Abgrund ist hier mindestens zweihundert Meter tief.«
Yü flüsterte mir zu:
»Bleibe ganz ruhig, was auch geschieht. Warte hier auf mich.«
Ich begriff nicht sofort, was er meinte, aber die Bedeutung seiner Worte sollte mir sehr bald klarwerden. Yü mußte die Gewohnheiten solcher Gebirgsräuber genau kennen, sonst wäre er das Risiko nicht eingegangen. Er mußte wissen, daß sie uns töten würden, ob wir ihnen nun unsere armseligen Vorräte freiwillig überließen oder nicht. Sie spielten nur mit uns, weil sie ihre Freude daran hatten.
»Das mache ich schon selbst«, knurrte der Anführer und hob seine Flinte. Gleichzeitig machte er einen Schritt auf Yü zu, der ihn ruhig und lächelnd erwartete. »Dir wird das Grinsen noch vergehen. Los, Mönch. Nimm die Richtung, die frei geblieben ist.«
Es gab nur eine Richtung, die nicht bewacht wurde: der Abgrund.
Yü nickte und ging auf den Abgrund zu. Sein Blick streifte mich, als er an mir vorbeikam. Er ignorierte den Anführer, als sei er nicht vorhanden. Rechts, wo der Weg zum Tal hinabführte, stand ein kleiner, dicker Kerl mit einem langen Dolch.
Yü ignorierte auch ihn und wandte sich plötzlich nach links, wo die beiden übrigen Räuber Wache hielten. Einer von ihnen hielt einen altmodischen Revolver in der Hand, der andere war mit einem Messer bewaffnet. Yü sprang den mit dem Revolver an.
Er bewegte sich dabei so schnell, daß keiner der Banditen begriff, was er wollte, ehe es zu spät war. Yü prallte so heftig gegen den verwahrlosten Kerl, daß dieser stolperte, einen Schritt zurückwich – und dann ausrutschte und schreiend in die Tiefe stürzte. Yü hatte Mühe, ihm nicht zu folgen. Er warf sich auf den Boden und griff nach den Beinen des zweiten Mannes, der völlig verblüfft dastand.
Ich selbst stand da wie versteinert, obwohl sich mir jetzt die Gelegenheit geboten hätte, den Anführer der Räuber von der Seite her zu überfallen. Aber ich fühlte, daß eine solche Handlungsweise den Interessen Yüs entgegengehandelt hätte, obwohl ich das nicht verstand.
Von rechts eilte der Mann mit dem Dolch seinem gefährdeten Genossen zu Hilfe. Mit einem wütenden Aufschrei stürzte er sich mit erhobener Waffe auf Yü, der hilflos am Boden lag und sich noch immer an dem Bein des Messerhelden festhielt. Zentimeter neben ihm war der Abgrund.
»Yü!« rief ich gellend, um meinen Freund zu warnen.
Aber Yü hörte nicht – oder wollte nicht
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