Der Stein der Könige 1 - Quell der Finsternis
der Altar stand. Bei der Prozession hatte er gebrechlich gewirkt, aber vielleicht war das nur auf die Hitze zurückzuführen gewesen. Im Tempel war das Gewicht des Alters scheinbar von ihm abgefallen. Er wirkte größer als sonst, und er ging mit festem Schritt.
Gareth starrte geradeaus zum Altar, aber er sah ihn nicht wirklich. Er sah nichts, spürte nichts, keine Angst, keine Verzweiflung. Die Kälte breitete sich von seinen Händen in den ganzen Körper aus. Menschen bewegten sich und sprachen, aber sie waren nur Marionetten bei einer Kirmes, ihre Holzkörper klein und grotesk und von Fäden gehalten.
König Tamaros nahm seinen Platz auf einer Seite des Altars ein, gegenüber dem Hohen Magus. Die Menge raschelte und hüstelte ein letztes Mal, dann herrschte Schweigen. Der Hohe Magus erhob sich. Er verbeugte sich vor dem König, dann sprach er die Worte aus, die den Beginn der Zeremonie bildeten.
»Der Kandidat möge vortreten.«
Zwei Paladine – einer davon Valuras Gemahl – verließen ihren Posten und gingen zu einer Nische im Hintergrund. Eine Tür ging auf. Gareth erinnerte sich lebhaft an die Verwandlungszeremonie von Helmos, und es kam ihm so vor, als sähe er zwei Zeremonien gleichzeitig – diejenige, deren Zeuge er vor Jahren gewesen war, überlagerte vor seinem geistigen Auge jene, die nun stattfand. Helmos war in der Tür stehen geblieben, und das Licht war auf ihn gefallen.
Dagnarus hielt nicht inne. Er war noch nie für seine Geduld bekannt gewesen, und er musste wohl gegen die Tür gedrückt haben, denn sobald sie sich zu bewegen begann, drängte er sich durch und wartete nicht einmal auf seine Paladin-Eskorte, sondern eilte ihnen voraus. Er war in bester Laune und lächelte triumphierend.
Der Ehrenwerteste Hohe Magus blickte ihn missbilligend an, und selbst Tamaros schaute ernst drein und schüttelte tadelnd den Kopf.
Dagnarus erkannte, dass seine Eile unangemessen und sein Überschwang fehl am Platze war. Er verlangsamte seinen Schritt, wartete auf seine Eskorte, und es gelang ihm, das Gesicht in einer Weise zu verziehen, die ihn ein wenig demütiger und reuevoller wirken ließ. Nun stand er vor dem Altar.
Ein Murmeln ging durch die Menge. Dagnarus hatte nie so königlich gewirkt, nie so gut ausgesehen. Sein Gesicht strahlte vor Freude über den Sieg, und er hatte kein bisschen Angst. Er verbeugte sich vor den Menschen, die ihn dafür liebten. Es gab vereinzelt spontanen Applaus, was dem Hohen Magus einen weiteren mahnenden und schockierten Blick entlockte. Dann drehte sich Dagnarus um und kniete vor seinem Vater nieder.
»Vater, ich bitte dich um deinen Segen«, sagte er, und seine Stimme hallte vor der Kuppeldecke wider und war überall gut zu hören.
König Tamaros, gerührt und erfreut, legte die Hand auf den Kopf seines Sohns und streichelte über das lockige rotbraune Haar. Nur die Zuschauer in der ersten Reihe konnten seine Antwort hören, aber alle spürten sie in ihren Herzen.
»Ich gewähre dir meinen Segen, Sohn. Du hast mich heute sehr stolz gemacht.«
Dagnarus erhob sich wieder und wandte sich seinem Bruder zu.
Helmos, in der Rüstung eines Paladins, stand neben seinem Vater. Die Paladine trugen ihre Helme nicht, aber das machte für Helmos keinen Unterschied, denn seine Miene war kälter als Stahl. Der Ehrenwerteste Hohe Magus wirkte unsicher, die Menge spannte sich in nervöser Erwartung an, erwartungsvoll, furchtsam, auf eine unangenehme Szene hoffend.
Wieder kniete Dagnarus nieder. Er hob den Kopf und blickte zu seinem Halbbruder auf.
»Helmos, ich bitte dich um deinen Segen, denn ich werde diese Zeremonie nicht fortsetzen, bis du ihn mir gewährst.«
Dagnarus war edel, schön, demütig, ernst und feierlich.
Helmos war gerührt; er konnte nicht anders. Er zögerte, als dächte er wirklich daran, Dagnarus seinen Segen zu verweigern, und musterte seinen Bruder forschend, als wollte er ihm bis in die Tiefe seiner Seele schauen. Dagnarus begegnete diesem Blick ruhig.
Gareth, der wusste, dass all das gespielt war, der wusste, dass Dagnarus insgeheim über Helmos lachte, wand sich auf seinem Platz und schlug die Hände vor die Augen, weil er nicht mehr sehen wollte, wie Dagnarus den Kronprinzen zum Narren hielt.
»Verweigere ihm den Segen!«, betete Gareth, aber er wusste, dass Helmos das nicht tun würde, dass er so gebannt von Dagnarus war wie die Maus von der Schlange.
»Ich gebe dir meinen Segen, Bruder«, sagte Helmos schließlich, und alle in der Menge holten
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