Der steinerne Engel
aber in den höheren Schulklassen ist die eher selten. Zur Risikogruppe für Hepatitis B zählt, wer sexuell mit oft wechselnden Partnern verkehrt oder sich Drogen spritzt. Bei einem Sechsjährigen war das ein deutlicher Hinweis auf sexuellen Missbrauch.«
Der Sheriff nahm sich das letzte Blatt vor, den positiven Syphilistest bei einem Neunzehnjährigen. »Kein Name«, sagte er zu Charles. »Sind Sie sicher, dass es Babe ist?«
Charles nickte. »Es ist dieselbe Nummer, unter der Cass ihn bei ihrer Behandlung geführt hat.«
Der Sheriff verglich die Blätter miteinander. Die Infektion des Sechsjährigen war die neueste in der Reihe. Jimmy war bereits im Sekundärstadium, demnach hatte er sich die Krankheit nicht während seiner kurzen Flucht geholt.
»Die Infektion bei Babe liegt am weitesten zurück«, sagte Riker. »Er war schon bei der berühmten Party im Dayborn Bar and Grill erkrankt.«
»Ich nehme an, dass er die Behandlung bei Dr. Shelley vorzeitig abgebrochen hat«, sagte Charles. »Deshalb war seine Krankheit wohl schon so weit fortgeschritten, als er starb.«
Riker erläuterte jetzt die übrigen Unterlagen, die ein Motiv für den Mord lieferten, Aufschluss über illegale Machenschaften und Hinweise auf den Pädophilen mit einer Vorliebe für kleine Jungen gaben.
Der Sheriff hörte nicht zu. Seltsam unbeteiligt griff er nach der handschriftlichen Aussage von Jimmy Simms. Auf der letzten Seite waren in einer in sauberen Druckbuchstaben gemalten Liste alle Mörder von Cass Shelley aufgeführt. Sein Blick wanderte lustlos von einem Namen zum anderen, dann fielen ihm die Blätter aus der Hand und flatterten auf den Tisch.
So also sah das Ergebnis aus, dem er entgegengefiebert, für das er gelebt hatte?
Er fühlte sich betrogen, denn er hatte insgeheim mit einem eindrucksvollen Knalleffekt gerechnet - etwa in der Art wie Liliths fliegender Racheengel. Jetzt, da der lang ersehnte Augenblick gekommen war, fühlte er sich seltsam unzufrieden.
Lilith blieb als Bewachung des weinenden Gefangenen zurück, während Tom Jessop mit einem hohlen Gefühl im Bauch das Sitzungszimmer verließ - als habe er eine Mahlzeit ausgelassen. Nein, viele Mahlzeiten. Über viele Jahre.
Er ging mit Riker und Charles zurück ins Vorzimmer. Nach außen ließ er sich von seiner Enttäuschung nichts anmerken. Noch auf dem Gang erklärte er sachlich: »Lilith und ich werden Jimmy durch die Hintertür rausbringen. In einem Gefängnis in New Orleans dürfte er sicherer sein. Ich brauche Haftbefehle für dreiundzwanzig Leute und kenne keinen einzigen Richter, der mir noch einen Gefallen schuldig ist. Kann sein, dass sich die Sache hinzieht. Am besten bleiben Sie am Telefon, Riker, für den Fall, dass ich Rückenstärkung brauche, damit ein Richter die Geschichte schluckt.«
»Kein Problem«, meinte Riker.
Im Vorzimmer lächelte ihnen Jane entgegen. Sie saß auf der Bank an der Tür und hielt ein zugedecktes Tablett auf dem Schoß. »Hallo, Tom! Ich hab gesehen, wie dein Gefangener reingebracht wurde, und dachte mir, dass du was zu essen für ihn brauchst.«
»Dank dir schön, Jane, aber ich hab ihn vor zehn Minuten laufen lassen. Kannst mir trotzdem die Rechnung schicken.«
Jane lächelte unentwegt weiter. Es schien, als habe sie während der Wartezeit mehr ergattert als nur das Geld für das Essen auf dem Tablett. Als die Tür sich hinter ihr geschlossen hatte, wandte Tom Jessop sich an Riker. »Was sie aufgeschnappt hat, ist noch vor dem Essen in der ganzen Stadt rum.«
»Wie lange wird's dauern, bis Sie die Haftbefehle haben?«
»Zu lange. Heut Abend ist in Owltown die Bestattung. Nur im Kreis der Familie, wie es heißt, aber das sind immerhin an die hundert Betrunkene. Am besten schlagen wir gleich morgen früh mit den Kollegen von der Bundespolizei zu, dann schnappen wir die Verdächtigen, wenn sie noch verkatert sind.«
Um eins kam Charles mit Sandwiches und Kaffee aus Jane's Café zurück. »Ich habe keine Gerüchte aufgeschnappt. Vielleicht hat Jane gar nichts mitgekriegt.«
»Das wär zu schön, um wahr zu sein.« Riker griff in die Tüte und holte ein Sandwich heraus, ohne den Blick vom Fenster zu wenden. Ein Gast, der gerade Jane's Café verlassen hatte, drehte sich langsam um und sah zum Büro des Sheriffs hinüber.
Charles trank seinen Kaffee. Er war offenbar bester Laune. »Mallory hat sich also doch an die Vorschriften gehalten.«
»Ich höre immer Vorschriften ... Allein beim Zusammentragen der Beweismittel
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