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Der stille Amerikaner

Der stille Amerikaner

Titel: Der stille Amerikaner Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Graham Greene
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Gegenleistung für Güte, für Sicherheit, für die Geschenke, die man ihnen gibt, und sie hassen einen für einen Schlag oder für eine Ungerechtigkeit. Sie alle wissen nicht, wie das ist – ein Zimmer zu betreten und plötzlich in einen wildfremden Menschen verliebt zu sein. Für einen alternden Mann, Pyle, bedeutet das große Sicherheit – eine Frau wie Phuong wird nicht aus ihrem Heim davonlaufen, solange dieses Heim glücklich ist.«
    Ich hatte nicht die Absicht gehabt, ihn zu verletzen. Daß ich es getan hatte, wurde mir erst klar, als er mit unterdrücktem Zorn erwiderte: »Sie könnte aber größere Sicherheit und größere Güte vorziehen.«
    »Mag sein.«
    »Und davor fürchten Sie sich nicht?«
    »Nicht so sehr wie bei der anderen.«
    »Lieben Sie sie überhaupt?«
    »O ja, Pyle, o ja. Aber auf die andere Art habe ich nur ein einziges Mal geliebt.«
    »Trotz der über vierzig Frauen«, fuhr er mich an.
    »Ich bin überzeugt, daß diese Zahl unter dem Durchschnitt von Dr. Kinsey liegt. Wissen Sie, Pyle, die Frauen wollen keine Männer ohne sexuelle Erfahrung, und ich bin gar nicht so sicher, ob wir Männer Jungfrauen haben wollen, außer wenn wir pathologisch veranlagt sind.«
    »Ich wollte nicht sagen, daß ich keine Erfahrung habe«, erwiderte er. Alle meine Gespräche mit Pyle schienen eine geradezu groteske Entwicklung zu nehmen. Lag es etwa an seiner Aufrichtigkeit, daß sie stets die üblichen Bahnen verließen, gewissermaßen entgleisten? Unsere Unterhaltung schien nie um die Kurven zu kommen.
    »Sie können hundert Frauen haben und dennoch unerfahren bleiben, Pyle. Die meisten Ihrer G.I.s, die im Krieg wegen Vergewaltigung gehenkt wurden, waren völlig unerfahren. In Europa haben wir nicht so viele von dieser Sorte. Ich bin froh darüber, denn sie richten viel Unheil an.«
    »Ich verstehe Sie einfach nicht, Thomas.«
    »Es lohnt sich nicht, das zu erklären. Außerdem ödet mich das Thema an. Ich habe die Jahre erreicht, wo das Sexualleben weit weniger das Problem ist als das Alter und der Tod. Wenn ich morgens aufwache, beschäftigen diese Dinge meine Gedanken, und nicht der Körper einer Frau. In den letzten zehn Jahren meines Lebens möchte ich einfach nicht allein sein, das ist alles. Ich wüßte nicht, woran ich den ganzen Tag denken sollte. Da möchte ich schon lieber eine Frau bei mir im Zimmer wissen – selbst eine, die ich nicht liebe. Wenn aber Phuong mich verließe, würde ich die Kraft haben, mir noch einmal eine andere zu finden …?«
    »Wenn sie Ihnen nicht mehr bedeutet …«
    »Nicht mehr? Pyle, warten Sie erst mal, bis Sie sich davor fürchten, zehn Jahre allein, ohne eine Gefährtin zu verbringen und am Ende ein Altersheim vor sich zu haben. Dann werden Sie anfangen, in jede Richtung zu rennen, selbst fort von der Frau in dem roten Morgenmantel, nur um jemanden zu finden, irgend jemanden, der bleibt, bis alles vorüber ist.«
    »Weshalb gehen Sie dann nicht zu Ihrer Frau zurück?«
    »Es ist nicht leicht, mit einem Menschen zusammenzuleben, dem man Leid zugefügt hat.«
    Wir vernahmen einen langen Feuerstoß aus einer Maschinenpistole – sie konnte nicht mehr als eine Meile entfernt sein. Vielleicht schoß ein aufgeregter Posten auf Schatten: Vielleicht hatte ein neuer Angriff begonnen. Ich hoffte, es war ein Angriff – damit stiegen unsere Chancen.
    »Haben Sie Angst, Thomas?«
    »Natürlich, rein instinktiv. Aber meine Vernunft sagt mir, daß es besser ist, auf diese Art zu sterben. Deshalb kam ich in den Fernen Osten. Hier bleibt einem der Tod nahe.« Ich blickte auf die Uhr. Es war elf vorbei. Noch acht Stunden, und dann konnten wir uns entspannen. Ich sagte: »Es scheint mir, daß wir so ziemlich über alles gesprochen haben außer über Gott. Ich glaube, ihn sollten wir für die frühen Morgenstunden aufsparen.«
    »Sie glauben nicht an Gott, nicht wahr?«
    »Nein.«
    »Ohne ihn würde für mich das Ganze keinen Sinn ergeben.«
    »Für mich ergibt es mit ihm keinen Sinn.«
    »Ich las einmal ein Buch …«
    Ich habe nie erfahren, welches Buch er gelesen hatte. (Vermutlich war es weder von York Harding, noch von Shakespeare, noch die Anthologie zeitgenössischer Lyrik oder die »Physiologie der Ehe« – vielleicht war es »Der Triumph des Lebens«.) Eine Stimme drang zu uns direkt in den Turm herein, sie schien aus dem Schatten in der Nähe der Falltür zu kommen – eine hohl dröhnende Stimme aus einem Megaphon, die etwas in vietnamesischer Sprache verkündete. »Jetzt

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