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Der stille Herr Genardy

Der stille Herr Genardy

Titel: Der stille Herr Genardy Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hammesfahr Petra
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wir zwanzig Jahre weiter sind, bist du genauso ein Rasseweib wie deine Mutter.« Ich hatte oft daneben gestanden, und es war immer ganz normal gewesen. Vielleicht hatte ich ja tatsächlich einen Sinn dafür, einen sechsten oder siebten. Vielleicht konnte ich es wirklich fühlen, ob sie normal waren. Und bei Günther fühlte ich es auch. Es war einfach die Art, wie er mit Nicole umging. Der Unterschied im Blick, wenn er sie anschaute oder mich. Als Nicole dann im Bett lag, saß er auf der Couch. Er rauchte wieder sehr viel, schien nervös. Und wenn er mich ansah, dann immer so wie ein ertappter Sünder. Und dann, vor ein paar Wochen, holte er mich donnerstags von der Arbeit ab. Es war nicht verabredet, er stand einfach vor dem Personaleingang. Er sagte auch nicht viel, machte mir nur die Autotür auf, ließ mich einsteigen und fuhr gleich los. Ich dachte natürlich, daß er mich heimbringt, und war ziemlich erstaunt, als er plötzlich von der Straße runter fuhr. Da kam das Kribbeln im Bauch wieder. Als er den Motor abstellte, sagte Günther:
    »Ich glaube, ich mache einen großen Fehler.« Während er weitersprach, knöpfte er mir bereits die Bluse auf, streifte die Träger des Büstenhalters von den Schultern. Er war nicht behutsam, nicht übertrieben zurückhaltend, nicht einmal übermäßig zärtlich, er war genauso, wie ich es mir vorgestellt hatte. Er fragte nach einer Weile, ob mir draußen zu kalt sei. Natürlich war es kalt, es war Ende Februar. Ich schüttelte den Kopf, und er sagte:
    »Dann steig aus.« Wir standen mit dem Wagen in einem Waldstück. Es war stockdunkel. Aber ich hatte keine Angst. Ich fragte mich nur, warum wir nicht in seine Wohnung oder zu mir fuhren. Ich glaube, ich weiß es inzwischen. Günther hatte Angst, er wollte mir zeigen, daß ich von ihm nicht mehr zu erwarten habe. Er wollte mich schockieren. Das war ihm nicht gelungen. Seitdem hatte ich oft daran gedacht, einmal mit Hedwig über alles zu sprechen. Wenn überhaupt mit jemandem, dann nur mit ihr. Ihr hätte ich sagen können, wie das mit Franz gewesen war. Wie ein Spottgedicht aus vier Zeilen, einmal auswendig gelernt, kann man es ein Leben lang aufsagen. Keine Forderungen, immer nur gebettelt. Daß Franz wohl gelitten hatte unter seiner Veranlagung. Daß er selbst genau wußte, es war nicht normal. Daß ich Angst hatte, Angst vor ihm, Angst um ihn, weil ich ihn doch liebte, weil ich wollte, daß er glücklich und zufrieden mit mir war. Angst um Nicole. Weil ich den Ekel nicht überwinden konnte, den Ekel nicht und die Verachtung auch nicht in solchen Momenten. Daß ich zwei Jahre lang befürchtet hatte, Franz könne sich eines Tages an seinem eigenen Kind schadlos halten. Daß ich mir diese Furcht nur nicht eingestehen wollte. Und daß ich mich nach einem Mann gesehnt hatte, für den eine Frau eine Frau ist und ein Kind ein Kind. Daß ich die Angst mit mir herumgeschleppt hatte, jahrelang in einem unzugänglichen Winkel des Herzens. Daß ich sie ausgerechnet im Wald losgeworden war, über eine Motorhaube gebeugt, mit einem Mann hinter mir, der sich nicht einmal die Mühe machte, mir den Rock auszuziehen, nur das, was ich darunter trug und die Bluse. An einem Abend im Februar, so daß ich gar nicht mehr wußte, ob ich nur fror oder ob ich vor Lust zitterte. Und daß ich es toll gefunden hatte, herrlich, furchtbar schön. Daß ich gedacht hatte, jetzt wäre endlich alles normal. So wie im Märchen alles normal wurde, wenn der Prinz das schlafende Dornröschen wachküßte und damit den Fluch brach. Und wenn sie nicht gestorben sind… Ich hatte in den vergangenen Wochen den Mut nicht aufgebracht, mit Hedwig über all das zu sprechen. Und jetzt war es zu spät. Ich hatte eine Arbeitskollegin, bei der ich mir früher oft gewünscht hatte, sie zu hassen, weil sie so nett war. Mit der ich seit Jahren so etwas wie befreundet war, mit der ich immer über alles hatte reden können. Die mich manchmal ausgelacht und manchmal bedauert, deren Tochter man ermordet hatte. Erwürgt, stand in der Zeitung, mißbraucht und erwürgt. Und ich hatte von Zeit zu Zeit einen Traum. Und wenn ich ihn hatte, mußte drei Tage später ein Mensch sterben. Aber diesmal war keiner gestorben, nicht nach drei Tagen. Und ich fand, das war schlimmer. Es hatte die alte Angst aufgeweckt. Es machte mich ganz verrückt, weil ich nicht wußte, ob alles so war, wie es sich nach außen hin zeigte, normal. Ich hatte einen Mieter, einen angenehmen, höflichen, großzügigen

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