Der stille Herr Genardy
bißchen weiter rechts die Straße. Ich konnte nicht hinüber, die Fußgängerampel war rot, und es war viel Verkehr. Aber es ging um Sekunden. Franz stand vor der Wickelkommode. Franz zog ihr die Windeln aus.
»Ja, wo ist denn mein kleines Mädchen«, sagte Franz. Und sonntags sagte Franz:
»Gib sie mir doch mal, Siggi. Vielleicht schläft sie noch mal ein, wenn ich sie ein bißchen halte. Warum soll sie denn nicht in meinem Bett liegen?« Ich hetzte, stieß mit der Hüfte gegen eine Motorhaube. Für einen winzigen Augenblick war ich mitten im Wald. Es war stockdunkel und kalt. Und ich beugte mich über die Motorhaube. Und Günther war hinter mir, er gab mir einen Stoß, damit ich weiterhetzte. In dein Bett gehöre ich. Ich bin deine Frau. Ich bin kein kleines Mädchen, begreif das doch endlich. Nur nicht stehenbleiben, nur nicht aufhalten lassen von Dingen, die ich in der Vergangenheit nie hatte aussprechen können. Bremsen kreischten, jemand fluchte hinter mir her. Es war nur der Abteilungsleiter, der mehrfach flüsterte:
»Jetzt reißen Sie sich doch zusammen, Frau Pelzer.« Ich schüttelte die Hand ab, die mich festhielt. Die Straße nahm kein Ende. Und Nicole schrie, Gott im Himmel, ich hatte sie nie so schreien hören. Es war nur noch ein schrilles Quietschen, so entsetzlich langgezogen. Ein Priester sprach von Gottes Wille, so ein Blödsinn. Es war nicht Gottes Wille gewesen, es war ein krankes Hirn. Es tat so weh. Ich hatte Krämpfe. Als Franz zum erstenmal mit mir schlief, hatte ich Krämpfe, die ganze Nacht hindurch. Hochzeitsnacht, Blut auf dem Laken und Krämpfe im Leib.
»Hör auf zu brüllen, du kleines Biest«, hatte er gesagt,»und stell dich nicht so an. Ich tu dir nicht weh. Halt still, jetzt sei doch endlich still.« Nein, das hatte Franz nicht gesagt, Franz nicht. Er hatte das gesagt, gekeucht hatte er es, ich wußte es ganz genau. Als ob das Kind da vorne mir alles erzählen könnte. Jetzt sei doch endlich still. Ein Schlag ins Gesicht. Die Hände um den Hals. Und dann ging der Atem aus. Neben mir stand immer noch der Abteilungsleiter. Ich hatte das Gefühl, daß auch hinter mir einer stand. Er grinste die ganze Zeit, das konnte ich im Rücken spüren. Aber Franz war es nicht. Franz war tot, gegen einen Baum gerast, vielleicht nur, weil er verhindern wollte, daß eines Tages ein Kind in einem Sarg liegen mußte. Hinter mir stand ein Fremder. Er fühlte sich mir so überlegen, mir und allen anderen, warum auch nicht? Die Polizei hatte den Mörder verhaftet, und er wußte das. Ihm konnte nichts passieren, er konnte weitermachen, sich ein neues Spielzeug suchen. Mißbraucht und erwürgt! Dabei brauchte er gar nicht mehr suchen, er hatte längst eins gefunden, und nicht nur eins! Zwei, drei. Warum hätte der Student sie mißbrauchen sollen? Erwürgt hätte doch völlig gereicht, wenn sie ihm wirklich gefährlich geworden war. Erwürgt und die verräterischen Pillen aus ihrer Jackentasche genommen und die fünfzig Mark. Ich hätte das getan, an seiner Stelle. Und wenn ich schon daran gedacht hätte, wo ich doch die halbe Zeit nicht vernünftig denken konnte, wo ich doch viel zu blöd war… Dreh dich nicht um, der Plumpsack geht herum. Wer sich umdreht oder lacht, kriegt den Buckel schwarz gemacht. Und den Hals blau. Und die Beine rot. Er stand direkt hinter mir. Aber er fühlte sich genauso unwohl in seiner Haut wie ich. Er hatte Angst. Angst vor einem Onkel. Da war ein Kind, das immer auf dem Schoß des Onkels ritt. Da war so viel, so wahnsinnig viel, so viel Wahnsinn. Alles nur Wahnsinn. Aber er war da, direkt hinter mir. Wenn ich mich umgedreht hätte, bestimmt hätte ich ihn gesehen. Ich hatte den Mut nicht, mich umzudrehen. Es gibt eine Menge von solchen Spinnern, sagte Günther. Frag die Polizei… Und es gab noch mehr Männer, die so veranlagt waren wie Franz. Und nicht alle hatten sie Hemmungen. Nicht jeder von ihnen begnügte sich jahrelang mit einem Ersatz. Es war der blanke Horror.
Irgendwann saßen wir an einem Tisch. Der Abteilungsleiter, Hedwigs Mutter, der Mann, von dem ich immer noch glaubte, er sei Hedwigs Bruder, und ich. Hedwig schlich herum wie ein Gespenst. Es gab Kaffee und belegte Brötchen. Ich war nicht hungrig. Doch ich aß eins nach dem anderen, nur damit ich etwas zu tun hatte. Und dabei war es fast so wie am vergangenen Samstag, in Wirklichkeit war ich gar nicht da. Ich war immer noch auf dem Friedhof, stand immer noch vor dem Sarg und ließ mir von dem Kind darin
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