Der stille Herr Genardy
wir losfuhren, drückte er mir einen Briefumschlag in die Hand. Das Geld, das wir gesammelt hatten.
»Tun Sie mir den Gefallen, geben Sie das Frau Otten. Ich kann das nicht so gut«, bat er. Ich steckte den Umschlag in die Handtasche. Ich wollte ihn Hedwig geben, wenn ich eine Gelegenheit fand, allein mit ihr zu sprechen. Aber als ich sie dann sah, hatte ich nicht mehr das Bedürfnis, allein mit ihr zu reden. Ich hätte sie fast nicht wiedererkannt. Sie mußte in den paar Tagen fast zehn Kilo abgenommen haben. Ganz dürr sah sie aus, das Gesicht so eingefallen und grau. Nur grau und rot. Sie war doch nur knapp anderthalb Jahre älter als ich, und sie sah aus wie achtzig. Sie stand vor der Halle und starrte hinein. Ganz hinten ein paar brennende Kerzen, ein paar Blumensträuße und davor der weiße Sarg. Es waren mehrere Reihen von Stühlen in der Trauerhalle aufgestellt. Aber da Hedwig selbst nicht hineinging, blieben die anderen auch draußen stehen. Neben Hedwig stand ein Mann, der die ganze Zeit über ihren linken Ellbogen festhielt, manchmal legte er ihr auch eine Hand in den Rücken. Ich dachte, es wäre ihr Bruder. Ich wußte, daß Hedwig einen Bruder hatte, der drei oder vier Jahre älter war als sie. Früher hatte sie mir oft erzählt, daß er sie immer herumkommandierte und sich aufspielte wie der Herr des Hauses. Es standen nur ein paar Erwachsene da. Ich hatte damit gerechnet, daß wenigstens ein paar Schulkameraden von Nadine Otten an der Beerdigung teilnehmen würden. Ich hatte immer geglaubt, das sei so üblich. Als damals das Mädchen aus meiner Klasse verunglückte, waren wir alle auf dem Friedhof gewesen. Und wir hatten alle geweint. Hier waren keine Kinder, und es weinte niemand. Es war so armselig, die Kerzen, die Blumen, die vier Kränze, einer von Hedwig, einer von der Schule, einer von Hedwigs Schwiegereltern. Sie standen ganz vorne. Der alte Mann mußte Nadines Großmutter die ganze Zeit über festhalten. Sie wollte immer zum Sarg. Um Hedwig kümmerten sie sich gar nicht. Ihr geschiedener Mann war nicht gekommen. Es hieß später, er sei zur Zeit in einer Klinik auf Entzug. Der vierte Kranz war von Hedwigs Mutter. Später erfuhr ich, daß Hedwigs Vater vor ein paar Jahren gestorben war. Und ihr Bruder war mit dem Motorrad verunglückt, auch schon vor ein paar Jahren. Der Mann, der die ganze Zeit ihren Arm hielt, war von der Polizei. Ich wollte meine Blumen beim Sarg ablegen. Als ich nach vorne ging, hob Hedwig den Kopf. Dann hing sie auch schon an meinem Hals.
»Was hätte ich denn tun sollen, Sigrid? Was hätte ich denn tun sollen? Jetzt liegt sie da drin.« Der Mann löste ihre Arme von meinem Nacken, zog sie an sich und klopfte ihr auf den Rücken. Er schaute mich an und nickte, als wolle er sagen, es sei schon in Ordnung, er würde sich jetzt um sie kümmern. Ich konnte im ersten Moment keinen Schritt weitergehen. Der Abteilungsleiter kam und nahm mir die Blumen aus der Hand. Er legte sie zusammen mit seinem Strauß vor den Sarg. Dann nahm er mich beim Arm, genauso wie der Mann Hedwig hielt. Ich mußte den Sarg anstarren, weißes Holz mit ein paar Messingverzierungen. Plötzlich wußte ich wieder, daß ich es bei Franz auch so gemacht hatte. Nicht geweint, nur den Sarg angestarrt und mir vorgestellt, wie er da drin lag. Jetzt sah ich das Kind drin liegen. Aber es lag nicht auf Polstern, nicht auf glänzend weißem Stoff. Es lag auf dem Boden, im Dreck. Es schaute mich an. So einen Blick hatte ich noch nie gesehen, so erbarmungswürdig. Doch, ich hatte ihn schon gesehen, am Sonntag, bei Denise. Hilf mir, in jedem Auge stand es geschrieben, hilf mir! Ich kann dir nicht helfen, sagte ich, ich bin ja froh, wenn andere mir helfen. Wenn der Abteilungsleiter mich nicht am Arm gehalten hätte, wäre ich vielleicht in den Sarg gefallen. Oder in den Dreck. Unkraut, verwitterte Holzbretter, darüber ein Dach von Teerpappe. Wo sind denn hier Kaninchen? Es ist doch noch recht kühl draußen, da läßt man sie nicht gerne im Freien. Hilf mir! Es sind keine Kaninchen da, nur ein paar alte Ställe. Es war kein fremdes Kind im Sarg, es war Nicole. Ich sah es ganz deutlich. Sie schrie nach mir, weil ihr jemand einen Wurm ins Gesicht geworfen hatte, während ich einen verschneiten Bahndamm entlangrannte und doch nicht von der Stelle kam. Aber es war ja auch kein Bahndamm. Als ich nach unten schaute, sah ich Betonplatten unter meinen Füßen. Und ein bißchen rechts davon die Bordsteinkante. Und noch ein
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