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Der stille Krieg - McAuley, P: Der stille Krieg - The quiet war

Der stille Krieg - McAuley, P: Der stille Krieg - The quiet war

Titel: Der stille Krieg - McAuley, P: Der stille Krieg - The quiet war Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul McAuley
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zusammengefunden hatten. Mobs waren zwar hässlich und bösartig, aber auch auf ein bestimmtes Ziel ausgerichtet. Sie versammelten
sich um eine Wunde in der Psyche der Bevölkerung wie weiße Blutkörperchen um eine Infektion des Körpers. Sie waren Sicherheitsventile gegen die Frustration und Unzufriedenheit. Sie vereinten die Bevölkerung gegen einen echten oder eingebildeten Feind. Die Mobs hat es immer gegeben, hatte Oscar gesagt. Alle möglichen Regierungsformen haben wir ausprobiert, aber der Mob ist stets eine Konstante der Zivilisation geblieben. Die Herrscher glaubten immer, Macht zu besitzen. Sie dachten, sie würden über der Herde stehen und mit Hilfe des Mehrheitskonsenses, brutaler Gewalt oder göttlichem Recht regieren, aber in Wirklichkeit waren sie lediglich Diener der Masse.
    Yamil Cho sprach in sein Headset und sagte dann: »Die Polizei versichert uns, dass wir nicht in Gefahr sind, solange wir unser Fahrzeug nicht verlassen. Ich werde uns so schnell wie möglich hier herausbringen, aber es wird das Beste sein, wenn wir uns unauffällig verhalten.«
    »Wir befinden uns in einer Limousine, Mr. Cho. Damit sind wir wohl kaum unauffällig. Außerdem dürfen wir das Treffen nicht verpassen. Bringen Sie uns sofort hier heraus.«
    »Ich werde mein Bestes versuchen«, sagte Yamil Cho und fuhr die Limousine ein Stück vor.
    Die Menge versammelte sich um einen riesigen Menschenbaum in der Mitte des Platzes. Menschenbäume waren ein Erbe von Avernus, die sie geschaffen hatte, bevor sie die Erde verlassen hatte und auf den Mond gezogen war, vor dem Umsturz. Sie waren in jeder Stadt angepflanzt worden. Ihr nahrhafter zuckerhaltiger Saft konnte abgezapft werden, um daraus Sirup, Wein oder Bier herzustellen, und aus ihren zerstampften Samenkapseln ließ sich Biokraftstoff produzieren. An den Verzweigungen ihrer Äste bildeten sich eiweißreiche Knöllchen, und aus ihrer Rinde ließen sich verschiedene Gewürze und ein Antibiotikum gewinnen. Wenn man
die Rinde kochte, konnte man daraus eine Art Papier herstellen, und die nährstoffreichen Blätter konnten roh gegessen werden. Die Menschen konnten ihr ganzes Leben in einem solchen Baum verbringen, und es würde ihnen dabei an nichts mangeln. Viele heilige Männer und Frauen taten genau das. Es gab nur selten einen Baum, der nicht von einem Bettelmönch oder einer Seherin bewohnt war.
    Von einem der breiten unteren Äste dieses Baumes hing etwas herab. Als die Limousine am äußeren Rand der Menge vorbeikroch, sah Sri, dass es die Leiche eines Albinos mit gebrochenem Genick war. Sein Kopf hing auf eine Schulter hinab, seine Kleidung war zerlumpt, und auf der Brust trug er ein Plakat, auf dem – offenbar in Blut – drei Worte geschrieben standen: Wider die Natur . Die Menschen schlugen mit Stöcken gegen die Beine und Füße des Leichnams, als würde es sich um eine Piñata handeln. Sie bewarfen ihn mit Steinen und Früchten. Sogar mit Schuhen. Sie zogen sich die Schuhe aus und warfen sie gegen den Leichnam.
    Hatten sie ihn fälschlicherweise für einen Außenweltler gehalten oder war er ein Ersatz, an dem sie ihren blinden Zorn gegen die Posthumanen auslassen konnten? Sri wurde klar, dass es eigentlich keine Rolle spielte. Das Einzige, was zählte, war die Wut der Menge.
    Ein kleiner Schwarm Polizeidrohnen und Einmannhelikopter hing in verschiedenen Höhen über den stufenförmig angelegten Terrassen und zurückgesetzten Fassaden der Superquadra, die den Platz an drei Seiten umgaben. Yamil Cho erklärte, dass die Polizei in Situationen wie dieser normalerweise nicht direkt eingriff, weil dadurch der Mob nur noch mehr angestachelt wurde.
    »Sie besprühen den Platz mit Pheromonen, um die Aufrührer friedlicher zu stimmen.«
    »Es scheint nicht zu funktionieren«, sagte Sri.

    Immer mehr Menschen versammelten sich auf dem Platz, wie Ameisen, die sich um einen Zuckerköder scharten. Die Menschen versuchten, durch die verspiegelten Fensterscheiben der Limousine zu blicken – eine Parade aus anzüglich grinsenden, verwirrten, wütenden und tränenüberströmten Gesichtern. Fäuste schlugen auf die Karosserie des Fahrzeugs ein und trommelten wie Regen auf das Dach. Die Limousine schaukelte auf ihren robusten Achsen hin und her wie ein kleines Boot in einer aufgewühlten See. Erste Faustkämpfe brachen in der Menge aus, als der Mob seine Wut gegen sich selbst zu richten begann. Etwas klatschte wenige Zentimeter von Sris Gesicht entfernt gegen die Fensterscheibe; die

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