Der stille Sammler
und die Hunde überwachen könne, ohne dass sie etwas davon merkten.
Weiter. Wäre das Leben normal gewesen, hätten Carlo und ich vor dem Essen noch eine Partie Scrabble gespielt. Er hätte mich wie immer geschlagen. Am Nachmittag hätten wir uns mit unseren Büchern hingesetzt, er mit seiner Wittgenstein-Biografie und ich mit dem Thriller, in dem die bösen Jungs böse sind und die Guten immer gewinnen. Am Abend hätten wir eine Münze geworfen, ob wir uns einen anspruchsvollen Film anschauen würden oder einen Action-Kracher, und ich hätte in beiden Fällen gewonnen.
Ich fragte mich, ob dieses Leben jemals wiederkehren würde. Konnte ich es überhaupt festhalten? Wahrscheinlich nicht. Schon jetzt spürte ich, wie ich mich vom Professa entfernte, Stück für Stück, während ich mich darauf vorbereitete, erneut der Einsamkeit entgegenzutreten, die mir früher nie bewusst gewesen war. Wenn es eine Sache gibt, auf die ich mich bestens verstehe, dann die, Menschen von mir wegzustoßen.
Als ich nach wiederholten Versuchen, Laura Coleman auf dem Handy zu erreichen, immer noch keine Antwort erhalten hatte, rief ich kurz vor Mittag im FBI -Büro an. Ich landete bei Maisie Dickens, der Rezeptionistin. Für jemanden, der tagtäglich mit Mord und Totschlag konfrontiert wird, war sie ein Mensch von unerschütterlich guter Laune. Man konnte Fotos von einem Massengrab betrachten, und Maisie kam hinzu und bat einen fröhlich, eine Geburtstagskarte mit kleinen Entchen zu unterschreiben. Manchmal konnte es einem unheimlich werden.
»Brigid!«, kreischte sie vergnügt, als sie meine Stimme hörte, als hätte sie geglaubt, ich wäre tot, und stellte nun voller Freude fest, dass ich noch am Leben war. So machte sie es bei jedem.
»Sorry, Brigid«, antwortete sie, als ich nach Laura Coleman fragte. »Sie ist heute Morgen nicht zum Dienst erschienen.«
»Können Sie mir sagen, wo sie ist?«
»Na klar. Die Seniorenresidenz, in der Lauras Eltern wohnen, hat angerufen und nach ihr gefragt. Ihre Mutter ist krank geworden.« Maisie gab ein mitfühlendes Schnaufen von sich. Wahrscheinlich hatte sie die Beileidskarte bereits geschrieben.
»Hat sie eine Nachricht für mich hinterlassen?«
Maisie schaute ihre Notizen durch. »Leider nicht. Soll ich ihr etwas ausrichten, wenn sie sich meldet?«
»Sagen Sie ihr nur, ich hätte angerufen.«
»Okay, Süße. Geht in Ordnung.«
Ich legte auf. Ich brauchte einen Moment, um das Gehörte zu verarbeiten. Die Frage war: Was konnte schlimm genug sein, dass Laura Coleman mich völlig außen vor ließ, mir keine Nachricht schickte und auch nicht von unterwegs anrief?
Ich rief noch einmal das FBI -Büro an.
»Wissen Sie, in welchem Seniorenheim Lauras Eltern wohnen, Maisie?«
»Tut mir leid, Süße, keine Ahnung.«
27.
Um zu demonstrieren, dass mich keine allzu großen Schuldgefühle plagten, erschien ich mit viertelstündiger Verspätung im Büro des Gerichtsmediziners. Ich nannte dem Mann am Empfang den Grund meines Erscheinens und wurde in den Autopsieraum geführt, wo George Manriquez bereits etwas aufgeschnitten hatte, was von der Tür aus wie ein pastellblauer Seelöwe aussah und sehr viel schlimmer stank als ein alter Fisch. Ich hielt inne, um mich an den Gestank zu gewöhnen, und hörte Manriquez während der Arbeit in ein Mikrofon diktieren, das über dem Tisch von der Decke hing.
»Männlicher Weißer, eins achtzig groß, Gewicht etwa sechsundsechzig Kilo. Angesichts des Zustands fortgeschrittener Verwesung ist der genaue Todeszeitpunkt schwer zu bestimmen.« Er wandte sich an Max und fuhr weniger förmlich fort: »Aufgrund der Hitze und der Feuchtigkeit im Innern des Vans könnte die Verwesung viel schneller fortgeschritten sein als üblich.«
»Was schätzen Sie, Doc?«, fragte Max.
»Könnte irgendwann zwischen höchstens vier Tagen und mindestens achtundvierzig Stunden gewesen sein. Tut mir leid, wenn ich nicht so präzise sein kann wie meine Kollegen in den Fernsehserien.«
»Aber er ist mindestens zwei Tage tot. Habe ich das richtig verstanden, Doc?«
»Ja. Geben Sie mir ein bisschen Zeit, dann rufe ich einen Spezialisten an, der die Temperatur im Innern des Vans in Bezug zur Insektenaktivität setzt. Dann kann ich vielleicht Genaueres sagen.«
Schließlich hob Manriquez den Kopf und blickte mich neugierig an. Für jemanden, der vor vier Jahren aus dem Dienst ausgeschieden war, hatte er mich in den vergangenen Tagen definitiv zu oft gesehen.
Max erbarmte sich meiner
Weitere Kostenlose Bücher