Der stolze Orinoco
Oberst von Kermor nach dem Ableben seiner Frau keine näheren Verwandten hatte.«
Mit gesenktem Kopfe und gekreuzten Armen dachte Jacques Helloch über das nach, was sein Genosse ihm mitgetheilt hatte. Dieser konnte damit gar keinem Irrthum verfallen sein. Er wohnte ja in Rennes, als der Proceß des Oberst von Kermor am dortigen Appellationsgerichte verhandelt wurde, und die im Vorhergehenden erwähnten Thatsachen waren im Laufe des Processes an den Tag gekommen.
Da kam ihm ein Gedanke, der wohl unsern freundlichen Lesern auch schon aufgestiegen sein mochte.
»Wenn der Sergeant Martial kein Verwandter ist, sagte er, so kann Jean auch nicht der Sohn des Oberst von Kermor sein, da dieser nur eine Tochter hatte, die noch ganz klein bei dem Schiffbruche mit umgekommen war, der ihrer Mutter das Leben kostete.
– Das liegt auf der Hand, erklärte Germain Paterne, es ist unmöglich, daß der junge Mann der Sohn des Oberst wäre…
– Und doch behauptet er das,« setzte Jacques Helloch hinzu.
Hier lag offenbar ein dunkler, ja ein geheimnißvoller Punkt vor. Konnte man annehmen, daß der junge Mann selbst das Opfer einer Täuschung wäre – einer Täuschung, die ihn in so ein gefahrvolles Unternehmen gestürzt hätte?… Nein, das gewiß nicht. Der Sergeant Martial und sein angeblicher Neffe mußten sich, bezüglich des Oberst von Kermor und der Bande, die Jean mit diesem verknüpften, auf Grundlagen stützen, die mit dem, was Germain Paterne wußte, in Widerspruch standen.
Das Interesse Jacques Helloch’s nahm übrigens noch mehr zu, je mehr er sich hier einer unaufgeklärten Sache gegenüber sah.
Die beiden Freunde unterhielten sich über dieses Thema bis zu dem Augenblicke wo die Herren Miguel und Felipe, die den hartköpfigen Vertreter des Guaviare schlafen ließen, zur Uebernahme des Wachpostens erschienen.
»Sie haben nichts Verdächtiges bemerkt? fragte Herr Miguel, der auf dem Hintertheil der »Maripare« stand.
– Nicht das Geringste, Herr Miguel, antwortete Jacques Helloch. Strom und Ufer sind vollkommen ruhig…
– Und voraussichtlich wird Ihre Wache ebensowenig gestört werden, wie die unsre, fügte Germain Paterne hinzu.
– Dann also, gute Nacht, meine Herren!« erwiderte Herr Felipe, indem er ihnen von Bord zu Bord die Hände drückte.
Wenn Herr Miguel und sein College die wenigen Stunden, die sie jetzt vor sich hatten, gleichfalls verplauderten, so bezog sich ihr Gespräch doch gewiß nicht auf denselben Gegenstand, wie das der beiden Franzosen. Herr Felipe benutzte jedenfalls die Nichtanwesenheit des Herrn Varinas, um die Bedeutung der Argumente, die dieser für seine Anschauungen betonte, in ihrer Leerheit zu zeigen, und Herr Miguel hörte ihm jedenfalls mit gewohnter Gutmüthigkeit zu.
Kurz, es ereignete sich auch nichts Besonderes bis zur Zeit, wo sie um zwei Uhr nach dem Deckhause der »Maripare« zurückkehrten, als der Sergeant Martial zum Antritt seiner Wache erschienen war.
Das Gewehr an der Seite, machte sich dieser einen Platz auf dem Hintertheil der Pirogue zurecht und begann über mancherlei nachzudenken. Niemals war er bis jetzt von so großer Unruhe erfüllt gewesen – nicht um seiner selbst, sondern um des Kindes willen, das da im Deckhause schlummerte. Er vergegenwärtigte sich noch einmal alle Einzelheiten dieser von Jean unternommenen Reise, bei der er dessen Wunsche hatte nachgeben müssen, die Abreise von Europa, die Ueberfahrt über den Atlantischen Ocean, die verschiedenen Zufälle, die sich ereigneten, seit sie Ciudad-Bolivar verlassen hatten… Er überdachte, wohin sie jetzt gingen und wie weit ihre Nachforschungen sie noch führen könnten, welche Nachrichten sie vielleicht in San-Fernando erhielten, an welchem weltfernen Orte der Oberst von Kermor sich befinden möge, um ein Leben abzuschließen, das so glückverheißend begonnen hatte und durch so schreckliche Schicksalsschläge zerstört worden war. Welchen Gefahren würde das einzige Wesen, das ihm auf Erden noch gehörte, ausgesetzt sein? Bisher war die Sache auch gar nicht nach dem Wunsche des Sergeanten Martial gegangen, der immer erwartet hatte, daß sie auf der Reise allein bleiben und mit keinem Fremden in nähere Berührung kommen würden. Jetzt waren zuerst die »Maripare« und die »Gallinetta« zusammengefahren. Die Passagiere der ersteren waren mit seinem angeblichen Neffen in näheren Verkehr getreten, wie das ja unter Leuten, die unter denselben Verhältnissen reisen, kaum zu umgehen ist.
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