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Der Streik

Der Streik

Titel: Der Streik Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ayn Rand
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wüsste.“
    In einem plötzlichen Gefühl trostloser Leere war sie froh, dass er weder verstanden noch geantwortet hatte, denn sie fühlte entfernt, dass sie zu viel enthüllt hatte, obgleich sie nicht gewusst hätte, was. Sie zuckte mit den Schultern, und die Bewegung durchfuhr sie wie ein leichter Krampf. „Es ist nur eine alte Einbildung von mir“, sagte sie gleichgültig. „Nur eine Laune, die alle ein oder zwei Jahre auftaucht. Zeigen Sie mir den aktuellen Stahlpreisindex, und ich habe alles wieder vergessen.“
    Sie wusste nicht, dass seine Augen ihr folgten, als sie sich von ihm entfernte.
    Sie bewegte sich langsam durch den Raum, blickte niemanden an. Sie bemerkte eine kleine Gruppe, die sich neben dem nicht befeuerten Kamin zusammendrängte. Der Raum war nicht kalt, aber sie saßen da, als wärmte sie der Gedanke an ein nicht existierendes Feuer.
    „Ich weiß nicht, warum, aber ich habe immer mehr Angst vor der Dunkelheit. Nein, nicht jetzt, nur wenn ich allein bin. Die Nacht macht mir Angst. Die Nacht an sich.“
    Die Sprecherin war eine ältere, unverheiratete Dame, die einen gebildeten und hoffnungslosen Eindruck machte. Die drei Frauen und zwei Männer, aus denen sich das Grüppchen zusammensetzte, waren gut gekleidet, ihre Gesichtshaut war glatt und gepflegt, aber sie traten mit einer ängstlichen Vorsicht auf, die ihre Stimmen eine Spur leiser als üblich machte, den Altersunterschied verwischte und allen dasselbe graue und verbrauchte Aussehen gab. Es war ein Anblick, der sich bei Gruppen von ehrbaren Leuten überall bot. Dagny blieb stehen und hörte zu.
    „Aber meine Liebe“, fragte jemand, „warum sollte sie Sie ängstigen?“
    „Ich weiß es nicht“, sagte die ältere Dame, „ich fürchte mich nicht vor Herumtreibern, Raubüberfällen oder Ähnlichem. Aber ich liege die ganze Nacht wach. Ich schlafe erst ein, wenn ich sehe, dass der Himmel sich heller färbt. Es ist wirklich seltsam. Jeden Abend, wenn es dunkel wird, überkommt mich das Gefühl, dass es diesmal das letzte Mal war und dass das Tageslicht nicht zurückkehren wird.“
    „Meine Cousine, die an der Küste von Maine lebt, hat mir das Gleiche geschrieben“, sagte eine der Frauen.
    „Letzte Nacht“, sagte die ältere Dame, „hat mich die Schießerei wachgehalten. Die ganze Nacht wurde geschossen, weit draußen auf dem Meer. Man sah keine Blitze. Man sah nichts. Man hörte nur in langen Abständen diese Schüsse, irgendwo im Nebel über dem Atlantik.“
    „Ich habe heute Morgen etwas darüber in der Zeitung gelesen. Schießübungen der Küstenwache.“
    „Aber nein“, sagte die ältere Dame gleichgültig. „Unten an der Küste weiß jeder, was es war. Es war Ragnar Danneskjöld. Die Küstenwache hat versucht, ihn zu fangen.“
    „Ragnar Danneskjöld in der Bucht von Delaware?“, japste eine Dame.
    „Oh ja, sie sagen, es sei nicht das erste Mal.“
    „Haben sie ihn erwischt?“
    „Nein.“
    „Niemand fängt ihn“, sagte einer der Männer.
    „Der Volksstaat Norwegen hat eine Prämie von einer Million Dollar auf seinen Kopf ausgesetzt.“
    „Das ist eine ordentliche Menge Geld für den Kopf eines Piraten.“
    „Aber wie können wir in der Welt Ordnung und Sicherheit schaffen oder Pläne aufstellen, wenn ein Pirat in den sieben Weltmeeren ungehindert sein Unwesen treibt?“
    „Wissen Sie, was er letzte Nacht erbeutet hat?“, sagte die alte Dame. „Das große Schiff mit den Hilfslieferungen, die wir dem Volksstaat Frankreich geschickt haben.“
    „Wie wird er die Waren, die er erobert, los?“
    „Hm, das … das weiß niemand.“
    „Ich habe einmal einen Seemann von einem Schiff, das er angegriffen hatte, getroffen, der ihn persönlich gesehen hat. Er sagte, Ragnar Danneskjöld habe das reinste Goldhaar und das furchterregendste Gesicht auf Erden – ein Gesicht ohne die geringste Spur von Gefühl. Wenn jemals ein Mensch ohne Herz geboren worden ist, dann er, sagte der Seemann.“
    „Einer meiner Neffen hat das Schiff von Ragnar Danneskjöld eines Nachts vor der Küste von Schottland gesehen. Er schrieb mir, er habe seinen Augen nicht getraut. Das Schiff sei besser als alles gewesen, was die Flotte des Volksstaates England besitzt.“
    „Man sagt, er verstecke sich in einem dieser norwegischen Fjorde, in denen ihn weder Gott noch irgendein Mensch je finden werden. Dort versteckten sich im Mittelalter schon die Wikinger.“
    „Auch der Volksstaat Portugal hat ein Kopfgeld auf ihn ausgesetzt. Ebenso der

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