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Der Streik

Der Streik

Titel: Der Streik Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ayn Rand
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dünnen Äste eines Baumes bogen, wie Arme, die sich hilfesuchend nach oben reckten. Hinter dem Baum sah man den Schein des Stahlwerkes.
    Er konnte das Gefühl, das ihn plötzlich übermannte, nicht in Worte fassen. Er hätte nicht beschreiben können, welchen Grund es dafür gab, welcher Art das Gefühl war und was es bedeutete. Es war zum Teil Freude, doch es war feierlich, wie wenn man den Hut zog – er wusste nur nicht, vor wem.
    Als er sich wieder unter die Leute mischte, lächelte er. Doch das Lächeln verschwand plötzlich; er sah, wie ein neuer Gast eintrat: Es war Dagny Taggart.
    Lillian ging ihr entgegen, um sie zu begrüßen, und betrachtete sie dabei neugierig. Sie waren sich vorher einige wenige Male begegnet, und sie fand es ungewohnt, Dagny Taggart im Abendkleid zu sehen. Es war ein schwarzes Kleid mit einem Oberteil, das wie ein Umhang über einen Arm und eine Schulter fiel und die andere Schulter unbedeckt ließ. Die nackte Schulter war der einzige Schmuck des Kleides. Wenn man Dagny Taggart sonst in den Kostümen sah, die sie immer trug, dachte man nicht an ihren Körper. Das schwarze Kleid wirkte übertrieben offenherzig – weil man erstaunt entdeckte, dass ihre Schulterpartie zart und schön war und dass das diamantene Armband am Handgelenk ihres nackten Armes sie so weiblich aussehen ließ wie nur möglich: Es sah aus, als wäre sie angekettet.
    „Miss Taggart, welch wunderbare Überraschung, Sie hier zu sehen“, sagte Lillian Rearden, deren Gesichtsmuskeln ein Lächeln zeigten. „Ich hatte nicht gewagt zu hoffen, dass meine Einladung Sie von Ihren viel wichtigeren Pflichten fortlocken könnte. Erlauben Sie, dass ich mich geehrt fühle.“
    James Taggart war gemeinsam mit seiner Schwester eingetreten. Lillian schenkte ihm ein Lächeln, das wie ein hastiger Nachsatz in einem Brief war, als bemerkte sie ihn zum ersten Mal.
    „Hallo, James. Das ist Ihre Strafe dafür, dass Sie so bekannt sind. Man neigt dazu, Sie angesichts der überraschenden Anwesenheit Ihrer Schwester zu übersehen.“
    „Was Bekanntheit angeht, kann Ihnen niemand das Wasser reichen, Lillian“, antwortete er mit einem dünnen Lächeln, „noch könnte man Sie jemals übersehen.“
    „Ich? Ach, ich habe mich damit abgefunden, im Schatten meines Mannes und an zweiter Stelle zu stehen. Ich bin mir demütig dessen bewusst, dass die Frau eines großen Mannes sich mit dem Widerschein seines Glanzes zufriedengeben muss. Meinen Sie nicht, Miss Taggart?“
    „Nein“, sagte Dagny, „das meine ich nicht.“
    „Ist das ein Kompliment oder ein Tadel, Miss Taggart? Aber vergeben Sie mir, wenn ich zugeben muss, etwas ratlos zu sein. Wen könnte ich Ihnen vorstellen? Ich fürchte, ich habe nichts anzubieten als Schriftsteller und Künstler, und ich bin sicher, dass Sie daran nicht interessiert sind.“
    „Ich würde gerne Hank suchen und ihn begrüßen.“
    „Aber selbstverständlich. James, haben Sie nicht einmal gesagt, Sie möchten gerne Balph Eubank kennenlernen? – Oh ja, er ist hier. – Ich werde ihm sagen, dass ich Sie bei Mrs. Whitcombs Dinner über seinen letzten Roman habe schwärmen hören!“
    Als sie quer durch den Raum ging, fragte sich Dagny, warum sie gesagt hatte, sie wolle Hank Rearden suchen, und was sie davon abgehalten hatte zuzugeben, dass sie ihn schon im ersten Augenblick ihres Eintretens gesehen hatte.
    Rearden stand am Ende des langen Raumes und blickte sie an.
    Er beobachtete sie, wie sie sich näherte, aber er ging ihr nicht entgegen, um sie zu begrüßen.
    „Hallo, Hank.“
    „Guten Abend.“
    Er machte eine höfliche und unpersönliche Verbeugung – eine Bewegung, die zu der formellen Eleganz seiner Kleidung passte. Er lächelte nicht.
    „Danke, dass Sie mich heute Abend eingeladen haben“, sagte sie fröhlich.
    „Ich kann nicht behaupten, gewusst zu haben, dass Sie kommen.“
    „Oh. Dann muss ich mich glücklich schätzen, dass Mrs. Rearden an mich gedacht hat. Ich wollte einmal eine Ausnahme machen.“
    „Eine Ausnahme?“
    „Ich gehe nicht sehr oft auf Gesellschaften.“
    „Ich freue mich, dass Sie diesen Anlass für Ihre Ausnahme ausgewählt haben.“ Er sagte das „Miss Taggart“ nicht dazu, aber es klang, als hätte er es getan.
    Sein formelles Auftreten kam für sie so unerwartet, dass sie nicht in der Lage war, sich ihm anzupassen. „Ich hatte Lust zu feiern“, sagte sie.
    „Meinen Hochzeitstag?“
    „Ach, es ist Ihr Hochzeitstag? Das habe ich nicht gewusst. Ich gratuliere,

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