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Der Streik

Der Streik

Titel: Der Streik Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ayn Rand
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unfähig, es zu glauben, unfähig, einen Gedanken zu fassen, der es ihn verstehen ließ. Ihre Augen folgten ihm.
    „Wie konntest du ihn hierher einladen?“, fragte er.
    „Komm schon, Henry, mach dich nicht lächerlich. Du möchtest doch nicht engstirnig sein, oder? Du musst lernen, die Ansichten anderer zu tolerieren und ihr Recht auf freie Meinungsäußerung zu respektieren.“
    „In meinem Haus?“
    „Ach, sei doch nicht so bieder!“
    Er sagte nichts, denn er war mit seinen Gedanken woanders, nicht weil er etwas überlegte, sondern weil er zwei Bilder vor sich sah, die ihn pausenlos anzustarren schienen. Er sah den Artikel „Der Krake“ von Bertram Scudder, der keine Gedanken ausdrückte, sondern nichts anderes war als ein Eimer voll Schleim, der öffentlich ausgeleert wurde – ein Artikel, der nicht eine einzige Tatsache enthielt, nicht einmal eine erfundene, sondern aus dem sich ein Schwall von Spott und Beschimpfungen ergoss, die nichts deutlich machten außer gehässiger Denunziation, die keine Beweise für nötig erachtete. Und er sah die Linien von Lillians Profil, die stolze Reinheit, die ihn anzog, als er sie heiratete.
    Als er sie wieder ansah, stellte er fest, dass er sie nur in seiner Vorstellung im Profil gesehen hatte, denn sie war ihm zugewandt und beobachtete ihn. In dem Moment, als er plötzlich in die Wirklichkeit zurückkehrte, meinte er, Freude in ihren Augen zu sehen. Aber schon im nächsten Augenblick besann er sich, dass er nicht verrückt und das nicht möglich war.
    „Es ist das erste Mal, dass du diesen …“ – er benutzte mit kühler Präzision ein obszönes Wort – „in mein Haus eingeladen hast, und es wird das letzte Mal sein.“
    „Wie kannst du nur solch einen Ausdruck …“
    „Keine Diskussion, Lillian. Oder ich werfe ihn auf der Stelle hinaus.“
    Er ließ ihr einen Augenblick Zeit, um zu antworten, etwas einzuwenden, ihn anzuschreien, wenn sie wollte. Aber sie schwieg, den Blick von ihm abgewandt, nur ihre zarten Wangen schienen leicht eingefallen, als hätte jemand die Luft herausgelassen.
    Als er wie blind durch das Gewirr von Licht, Stimmen und Parfum davonging, spürte er einen Anflug kalter Angst. Er wusste, dass er an Lillian denken und die Lösung für das Rätsel ihres Charakters finden sollte, denn dies war eine Enthüllung, die er nicht ignorieren konnte. Aber er dachte nicht an sie – und er fühlte diese Angst, weil er wusste, dass die Lösung schon lange Zeit aufgehört hatte, ihn zu interessieren.
    Die Flut der Erschöpfung begann wieder, in ihm anzusteigen. Es war ihm, als könnte er ihre immer dichter werdenden Wellen beinahe sehen. Sie war nicht in seinem Inneren, sondern außerhalb seines Körpers und breitete sich im Raum aus. Einen Augenblick lang schien es ihm, er wäre er allein, verloren in einer grauen Wüste, auf Hilfe angewiesen und wissend, dass keine Hilfe kommen würde.
    Plötzlich blieb er stehen. Im dem erleuchteten Eingang, der eine ganze Raumlänge von ihm entfernt lag, sah er die große, hochmütige Gestalt eines Mannes, der einen Augenblick stehen geblieben war, bevor er eintrat. Er war dem Mann nie begegnet, doch unter all den bekannten Gesichtern, die die Seiten der Zeitungen bevölkerten, war er der Einzige, den er hasste. Es war Francisco d’Anconia.
    Rearden hatte nie viele Gedanken an Männer wie Bertram Scudder vergeudet. Aber in Anbetracht jeder einzelnen Stunde seines Lebens, nach all den Strapazen und dem Stolz jedes Augenblicks, in dem seine Muskeln und sein Kopf vor Anstrengung schmerzten, nach jedem Schritt, den er gegangen war, um aus den Minen von Minnesota herauszukommen und seine Bemühungen in Gold zu verwandeln, angesichts seines Respekts für Geld und seine Bedeutung verabscheute er einen Verschwender, der nicht wusste, wie er sich des großen Geschenks vererbten Reichtums würdig erweisen konnte. Dort drüben, dachte er, stand der verachtenswerteste Vertreter dieser Spezies.
    Er sah, wie Francisco d’Anconia eintrat, sich vor Lillian verbeugte und dann durch die Menge ging, als besäße er diesen Raum, in dem er noch nie zuvor gewesen war. Die Köpfe drehten sich, um ihm nachzusehen, als zöge er sie an Schnüren hinter sich her.
    Als Rearden sich erneut Lillian zuwandte, sagte er ohne Ärger und mit einer Stimme, die nun Erheiterung statt Verachtung erkennen ließ: „Ich wusste nicht, dass du den auch kennst.“
    „Ich habe ihn auf einigen Gesellschaften getroffen.“
    „Gehört er auch zu deinen

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