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Der Streik

Der Streik

Titel: Der Streik Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ayn Rand
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welche Fähigkeiten jemand hat, sondern wer am bedürftigsten ist? Glaubt nicht jeder, dass es ausreicht, Dinge zu brauchen, damit man sie bekommt? Ich habe jedes moralische Gebot unseres Zeitalters befolgt. Ich habe Dankbarkeit erwartet, Lob und Ehre. Ich verstehe nicht, warum ich jetzt verdammt werde.“
    In der Stille all jener, die zugehört hatten, war der einzige Kommentar ein plötzliches schrilles Kichern von Betty Pope. Sie hatte gar nichts verstanden, doch sie sah den Ausdruck hilfloser Wut in James Taggarts Gesicht.
    Die Umstehenden blickten in Erwartung einer Antwort zu Taggart. Dem Thema selbst standen sie gleichgültig gegenüber, sie amüsierten sich einfach über die peinliche Szene. Taggart gelang es, ein herablassendes Lächeln aufzusetzen.
    „Du erwartest doch nicht von mir, dass ich das ernst nehme?“, fragte er.
    „Es gab eine Zeit“, antwortete Francisco, „in der ich nicht glaubte, dass irgendjemand das ernst nehmen könnte. Ich habe mich geirrt.“
    „Das ist ungeheuerlich!“ Taggarts Stimme begann, lauter zu werden. „Es ist mehr als ungeheuerlich, dass du deinen öffentlichen Pflichten mit so gedankenlosem Leichtsinn begegnest!“ Er drehte sich um und eilte davon.
    Francisco zuckte mit den Schultern und hob verständnislos die Arme. „Siehst du? Ich habe mir ja gedacht, dass du nicht mit mir sprechen willst.“
    Rearden stand allein am anderen Ende des Raumes. Philip bemerkte ihn, ging hinüber und winkte Lillian dazuzukommen.
    „Lillian, ich glaube nicht, dass Henry sich amüsiert“, sagte er mit einem Lächeln. Man konnte nicht recht sagen, ob das Spöttische darin Lillian oder Rearden galt. „Können wir nicht etwas dagegen unternehmen?“
    „Ach, Unsinn!“, sagte Rearden.
    „Ich wünschte, ich wüsste, was ich dagegen tun kann, Philip“, sagte Lillian. „Ich habe mir immer gewünscht, dass Henry lernen würde, sich zu entspannen. Er nimmt alles so schrecklich ernst. Er ist solch ein strenger Puritaner. Ich wollte ihn immer schon gerne einmal betrunken sehen, nur einmal. Aber ich habe es aufgegeben. Was würdest du vorschlagen?“
    „Oh, ich weiß nicht. Aber er sollte nicht ganz alleine herumstehen.“
    „Lasst es gut sein“, sagte Rearden. Obwohl ihm durch den Kopf ging, dass er ihre Gefühle nicht verletzen wollte, konnte er doch nicht umhin hinzuzufügen: „Ihr wisst gar nicht, wie lange ich schon versuche, alleine gelassen zu werden.“
    „Da hast du es.“ Lillian lächelte Philip zu. „Das Leben und die Menschen zu genießen ist nicht so leicht, wie eine Tonne Stahl zu gießen. Intellektuelle Betätigung lernt man eben nicht auf dem Marktplatz.“
    Philip kicherte. „Es ist nicht die intellektuelle Betätigung, um die mich sorge. Wie sicher bist du dir mit seiner puritanischen Strenge, Lillian? Wenn ich du wäre, würde ich ihn sich nicht uneingeschränkt umsehen lassen. Es sind heute zu viele schöne Damen anwesend.“
    „Henry und Gedanken an Untreue? Das ist zu viel der Ehre, Philip. Du überschätzt seinen Mut.“ Sie lächelte Rearden kalt zu, nur für einen kurzen, eindringlichen Augenblick, dann ging sie davon.
    Rearden sah seinen Bruder an. „Was zum Teufel soll das?“
    „Ach, komm schon, spiel nicht den Puritaner. Verstehst du keinen Spaß?“
    Während sie ziellos durch die Menge wanderte, fragte sich Dagny, warum sie die Einladung zu dieser Gesellschaft angenommen hatte. Die Antwort erstaunte sie: weil sie Hank Rearden sehen wollte. Als sie ihn inmitten der Leute beobachtete, erkannte sie zum ersten Mal den Gegensatz. Die Gesichter der anderen sahen aus wie eine Anhäufung austauschbarer Züge. Jedes Gesicht verschwamm in der Anonymität der Ähnlichkeit mit den anderen, sodass sie alle aussahen, als verschmölzen sie. Reardens Gesicht mit seinen kantigen Flächen, den blassblauen Augen und dem aschblonden Haar hatte die Festigkeit von Eis. Die kompromisslose Klarheit seiner Züge ließ es unter all den anderen aussehen, als bewegte er sich in einem Lichtstrahl durch einen Nebel.
    Unfreiwillig kehrte ihr Blick zu ihm zurück. Sie erwischte ihn nie dabei, wie er in ihre Richtung sah. Sie konnte nicht glauben, dass er sie absichtlich mied. Es gab keinen möglichen Grund dafür, und doch hatte sie das sichere Gefühl, dass es so war. Sie wollte auf ihn zugehen und sich davon überzeugen, dass sie sich irrte. Etwas hielt sie auf. Sie konnte ihr Zögern selbst nicht verstehen.
    Geduldig ertrug Rearden ein Gespräch mit seiner Mutter und zwei

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