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Der stumme Handlungsreisende

Der stumme Handlungsreisende

Titel: Der stumme Handlungsreisende Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Lewin
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persönlichen
     Vorhölle geschmort, während der Mann weder lebendig noch tot
     war.
    Alles, was ich hatte, waren
     oberflächliche Informationen und oberflächliche Eindrücke.
     Aber ihr Schmerz ging mir unter die Haut.
    Sieben Monate lang nicht aus
     dem Haus gekommen. Mrs. Thomas würde ihr den Grund, warum sie ihren
     Mann nicht besucht hatte, kaum zubilligen: daß sie es nämlich
     nicht ertragen konnte, die Mauern zu verlassen, die wiederum ihr Gefängnis
     darstellten.
    *
    Um Viertel nach zwei, nachdem
     sie das Mittagschaos in einer Imbißstube verschlafen hatte, war es
     ein Spatz, der Linn Pighee weckte. Er landete auf dem Sims vor dem offenen
     Fenster und begann, von der Augusthitze verwirrt, zu zwitschern.
    »Hm? Was?« Sie
     weinte etwas, hörte dann wieder auf.
    Ich holte ihr Kaffee, wofür
     sie dankbar zu sein schien.
    »Wenn Sie soweit sind«,
     sagte ich, »dann fahre ich Sie nach Hause.« 
    »Ich bin okay«,
     sagte sie. Sie machte sich daran aufzustehen und begriff plötzlich,
     daß sie ihr Kleid nicht mehr anhatte. Ich zeigte auf die Spüle.
    »Gibt es irgend etwas,
     was ich mir ausleihen könnte? Zum Anziehen?«
    Ich ging hinaus, um meine
     Mutter zu fragen.
    Mom fragte: »Ist sie
     wieder wach? Was wirst du jetzt mit ihr anstellen?«
    »Sie nach Hause
     bringen.«
    »Was ist sie, Albert?«
    »Eine Klientin«,
     sagte ich. Eine moralische, wenn auch keine zahlende. »Kannt du ihr
     irgendwas zum Anziehen leihen?«
    Wir einigten uns auf ein
     langes Etwas, eine Art Hänger, und bevor ihre Entschlossenheit
     schwand, half ich Linn Pighee in meinen Lieferwagen.
    »Ich sehe aus wie ein
     Sack Hundefutter«, sagte sie, als ich auf den Fahrersitz glitt.
    »Fühlen Sie sich
     besser?«
    »Ich fühle mich
     schrecklich. Ich… Sie…«
    Ich ließ den Motor an.
    »Bringen Sie mich nicht
     nach Hause.«
    »Was?«
    »Ich kann nicht nach
     Hause. Ich will nicht nach Hause. Ich kann es nicht. Nicht bei Tageslicht.
     Nicht…« Und sie fing wieder an zu weinen. 
    Ich dachte darüber nach.
    »Bitte!« Sie
     kauerte sich auf dem Sitz zusammen und verbarg ihr Gesicht in den Händen.
    »Ich bringe Sie zu mir
     nach Hause. Meine Tochter kann sich um Sie kümmern.«
    Sie sagte nichts.
    *
    Ich parkte direkt vor meinem
     Büro in der zweiten Reihe und half Linn Pighee ins Haus. Es war der
     langsamste Aufstieg, der je unternommen wurde;
     die frischen Kräfte, die sie aus dem Schlaf bei Mom geschöpft
     hatte, waren mittlerweile völlig verbraucht. Der Aufenthalt draußen,
     selbst in einem Auto, machte sie vollkommen fertig.
    Ich sah zu, daß ich die
     Tür aufbekam, und führte sie durchs Büro ins Wohnzimmer, wo
     Sam am Schreibtisch saß und tippte.       
    »Auf, auf, Sam. Ich
     habe eine Patientin für dich.«
    Ich setzte Linn auf einen
     Stuhl und ging dann wieder nach unten, um den Wagen wegzufahren.
    Und fand einen Polizisten
     vor, der mir gerade einen Strafzettel ausstellte.
    »Das soll wohl ein Witz
     sein«, sagte ich. »Ich helfe einer kranken Dame nach oben,
     damit sie sich hinlegen kann, und es dauert zwei Minuten. Das kann nicht
     Ihr Ernst sein.«
    »Tut mir leid, Sir«,
     sagte der Polizist. »Ich würde Ihnen ja gerne eine Chance
     geben, aber sehen Sie, wenn ich an diese Stelle des Strafzettelformulars
     komme« — er machte eine unklare Geste mit dem Stift - »dann
     muß ich auch weitermachen und es ausfüllen. Tut mir leid wegen
     Ihrer kranken Freundin. Hoffentlich macht sie es Ihnen wieder gut.«
    Ich stand schweigend daneben,
     während er sein Werk beendete. Er gab mir eine Kopie, stieg auf sein
     Töff-Töff und fuhr los. Ich sah zu, wie er um eine Ecke bog.
     Dann klemmte ich den Strafzettel unter den Scheibenwischer eines grauen
     Pontiacs, der direkt vor meinem Büro parkte. Es war alles seine
     Schuld, wirklich. Und vielleicht würde er den Strafzettel ja sogar
     bezahlen, ohne ihn zu lesen.
    Als ich wieder nach oben kam,
     hatte Sam Linn Pighee ins Bett gebracht. In mein Bett.
    »Entzückend«,
     sagte ich. »Und wo soll ich schlafen? Bei dir?«
    »Du bist nicht mein
     Typ, Daddy. Bleibt sie über Nacht?«
    »So weit im voraus
     haben wir die Dinge nicht besprochen. Aber ich nehme an, darauf läuft
     es hinaus.«
    »Wer ist sie?«
    »Linn Pighee. John
     Pighees Frau.«
    »Ooooooh«, sagte
     Sam.
    Ich erzählte ihr von
     Linns Besuch bei Bud’s Dugout.
    »Ich habe mich schon
     gefragt, wo du so lange bleibst. Gerade habe ich gedacht, du wärest
     zu diesem

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