Der stumme Ruf der Nacht
Mund wurde zu einem schmalen Schlitz, als sie die Blätter durchsah. Bei der Autopsie mit einem Foto von Walter Greene hielt sie inne. Die sterblichen Überreste waren verkohlt,
aber jemand mit ihrem Beruf wusste genau, was das war.
Will beobachtete sie und wartete. Sie überflog ein paar weitere Seiten, bis sie zu einem anderen Bericht kam – einem von mehreren in der Akte enthaltenen Polizeiberichten über häusliche Gewalt.
»Mama hat ihn in einer ihrer trockenen Phasen geheiratet«, murmelte sie. »Sie meinte, er könnte ihr helfen, zu Gott zu finden.«
Sie blätterte weiter bis zu einem Polizeifoto. Es zeigte Courtney als Achtzehnjährige, aufgenommen nach ihrer Festnahme wegen Trunkenheit am Steuer. Dem Foto nach ganz zu Recht. Fiona runzelte die Stirn.
»Ich hätte nicht ausziehen sollen«, bemerkte sie.
Will gab keine Antwort.
»Manchmal frage ich mich, ob nicht alles ganz anders gelaufen wäre -«
»Das ist doch sinnlos.«
Behutsam griff er zu Fiona hinüber und klappte die Akte zu. Er nahm sie ihr vom Schoß und legte sie wieder auf den Rücksitz. Am eigenen Hochzeitstag sollte niemand auch nur einen Gedanken an diese Geschichte verschwenden.
Nun starrte sie auf ihren Schoß und spielte mit ihrem Ehering. »Ich glaube nicht, dass sie ihn umgebracht hat.«
Will erwiderte nichts. Die Beweislage war unklar, aber ein Motiv war vorhanden, die Gelegenheit gegeben.
Fiona räusperte sich. »Ich weiß wirklich nicht, was sie dazu gebracht hat. Sie wollte nicht über ihn reden.
Ich glaube, sie hat ihn irgendwo überrascht und ist dann ausgeflippt. Es war an einem Freitag, wenn ich mich recht entsinne. Ich habe sie in ihrer Wohnung besucht, und sie machte diese Handzettel. Am selben Wochenende ist sie in seine Kirche geschlichen und hat sie in die Gesangbücher gelegt.«
Will schwieg weiterhin. Einer dieser Handzettel befand sich in der Akte. Rev. Walter Greene ist pädophil . Auf grelloranges Papier gedruckt, so dass es jeder Besucher des Gottesdiensts bemerken musste.
Fiona blickte zu ihrem Haus. »Warum kommst du nicht mit? Und feierst mit uns?«
Er sah, wie Menschen auf der Terrasse tranken und lachten. Sein stickiger Wagen war so ziemlich der letzte Ort, an dem sich Fiona momentan aufhalten sollte.
»Sie wird nicht kommen.«
Er fuhr herum. »Hast du mit ihr gesprochen?«
»Sie hat heute Morgen angerufen.«
Will stockte der Atem. Ihm war, als läge ein Tonnengewicht auf seiner Brust.
Fiona sah zum Fenster hinaus. »Sie hat mir nicht verraten, wo sie ist.«
»Was hat sie denn gesagt?«
»Dass sie an mich denkt. Dass es ihr gut geht und sie sich zurechtfindet. Aber sie wäre sehr gerne gekommen.«
Will glotzte sie an. Courtney lebte. Ihre Schwester hatte sie angerufen, ihn aber nicht.
Sie lebte.
Fiona betrachtete ihn genauer. Der Stress der letzten
Wochen zeichnete sich in ihrem Gesicht ab. »Es ist nicht immer leicht mit ihr. Das sollte dir von vornherein klar sein.«
Er lachte. Er konnte einfach nicht anders.
»Was ist?«
Er schüttelte den Kopf. »Du tust gerade so, als ob ich eine Wahl hätte.«
Er spürte, wie sie ihn mit kritischem Blick prüfte. Mit den Augen der älteren Schwester betrachtete. Sie wollte herausfinden, was er für Courtney empfand. Sie wollte seine Absichten kennen. Verdammt, dabei verstand er sich doch selbst nicht. Er wusste nur, dass er inzwischen in Courtneys Leben verstrickt war, und der einzige Weg, sich da herauszuarbeiten, war, sie zu finden. Es war ihm eigentlich auch egal, ob sie schuldig oder unschuldig war. Er wollte sie nur zurückhaben. In Sicherheit wissen.
»Und, kommst du jetzt mit?«, wiederholte sie ihre Frage.
»Danke, aber das geht nicht.«
»Warum denn nicht? Wieso willst du hier in dieser Kiste schmoren, wenn du genauso gut im kühlen Haus ein paar Krabbenbrötchen essen könntest?«
»Ich bin überhaupt nicht passend angezogen.«
Sie schnaubte verächtlich. »Wir sind hier in Austin. Es genügt, dass du Schuhe anhast.«
»Ich kann meine Waffe nicht hierlassen.« Und mit einer Glock im Hosenbund konnte er sich unmöglich auf ihrer Party zeigen.
»Dann steck sie dir halt in einen Stiefel. Komm schon.« Sie nickte in Richtung Tür. »Hast du vergessen,
dass ich einen Cop geheiratet habe? Wahrscheinlich hat die Hälfte der Gäste eine Kanone dabei.«
Er lächelte dünn.
»Jetzt komm endlich, ich bestehe darauf.«
Er warf noch einen Blick auf Fionas Haus und traf eine Entscheidung.
»Okay, vielen Dank.«
Sie lächelte. Und dann
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