Der stumme Ruf der Nacht
warum Sie lügen.«
»Ich lüge nicht. Und was geht Sie das überhaupt an, wie ich meinen Tag verbringe?«
»Sie waren auf Alvins Beerdigung«, stellte er fest. »Ich hab Sie gesehen.«
Sie ließ die Handtasche in den Fußraum fallen und blickte starr geradeaus. »Es ist übrigens grün.«
Der Wagen fuhr an, und sie zerbrach sich den Kopf, wie er sie entdeckt hatte. Sie hatte Stunden mit ihrer Verkleidung zugebracht. Auch die Perücke war perfekt gewesen. Nicht mal ihre Schwester hätte sie erkannt.
»Warum lügen Sie mich an?«
»Wer sagt, dass ich lüge?«
Kaum merklich schüttelte er den Kopf. Ihr Magen krampfte sich zusammen, und aus dem flauen Gefühl wurde Angst. Er durchschaute sie. Er sah alles. Irgendwie wusste er, was wirklich passiert war, und sie würde ins Gefängnis kommen.
»Seien Sie einfach ehrlich, ja? Das ist das Beste, was Sie machen können.«
Sie biss sich auf die Lippe und überlegte, ob sie das konnte. Einfach ehrlich sein. Er hatte leicht reden. Er stand nicht unter Mordverdacht. Ihn hatte kein Killer im Visier. Und er ging nicht jede Nacht in einem winzigen Zweifamilienhaus von Zimmer zu Zimmer, um das Licht anzuschalten und zu lauschen, ob sich draußen irgendwer herumtrieb.
»Dann war ich eben dort. Na und? Das ist ein freies Land.« Sie verschränkte die Arme und sah ihn herausfordernd an. Auf eine Beerdigung zu gehen, war doch kein Verbrechen.
»Die Frage ist nur, warum waren Sie da? Und warum haben Sie sich verkleidet?«
Sie wollte ihn nicht ansehen. »Das hat mehrere Gründe.«
Er schwieg, und für einen Augenblick war nur das Rumpeln des alten Motors zu hören.
»Ich wollte seine Tochter sehen«, antwortete sie.
Das war die Wahrheit, aber dennoch kam es ihr seltsam vor. Warum sollte sie sich für ein kleines Mädchen interessieren, das sie noch nie gesehen hatte? Ein kleines Mädchen, dessen Familie sie durch ihre Affäre mit dem egoistischen Vater fast zerstört hatte?
»Sie wollten Mackenzie Alvin sehen.«
»Ja.«
»Warum?«
Das war ja das Seltsame. »Ich weiß es nicht.« Sie zuckte die Schultern. »Irgendwie fühlte ich mich ihr verbunden.«
Er warf ihr einen überraschten Blick zu. »Wie verbunden?«
»Mein Vater starb, als ich klein war. Ich vermute, ich habe Mitleid mit ihr.« Sie seufzte und faltete die Hände im Schoß. »Aber sie sah gut aus, als sie mit ihrer Mutter zusammen war, und jetzt fühle ich mich besser. Ich glaube, es geht ihr gut.«
Anders als es Courtney gegangen war. Und Fiona. Als ihr Vater gestorben war, war ihre Mutter daran zerbrochen. Sie hatte ihre Töchter aus der Schule genommen und war mit ihnen nach Kalifornien gezogen. »Um neu anzufangen.« Aber dann hatte sie sich auf der Suche nach einer neuen Liebe nur einem Mann nach dem anderen an die Brust geworfen. Und wenn sie nicht nach einem neuen Typen Ausschau hielt, hatte sie sich mit Alkohol getröstet und es Fiona überlassen, ihre Schwester großzuziehen. Fiona war kaum älter als Courtney, aber fast ihr ganzes Leben war sie für sie wie eine Mutter gewesen.
Es dauerte über zwanzig Jahre und brauchte einen Umzug von einem Ende des Landes zum anderen, bis sich Fiona und Courtney aus der Misere befreit hatten, in die ihre Mutter sie nach dem Tod des Vaters gebracht hatte.
Aber Mackenzies Mutter schien ihre fünf Sinne beisammen zu haben. Außerdem hatte sie das nötige Kleingeld. Wenigstens musste sie nicht verzweifelt nach einem Mann suchen, der sie finanzierte.
Courtney musterte Will, der den Blick wieder auf die Straße gerichtet hatte. Vielleicht hielt er das alles nur für einen Haufen Blödsinn?
»Und warum noch?«
»Wie warum noch?«
»Sie sagten, es gäbe mehrere Gründe.«
Inzwischen erkannte sie die Häuser, die vor ihren Augen vorbeizogen, und sie näherten sich der Straße, in der sie wohnte. Wenn sie sich etwas ausdachte, wäre das Gespräch in wenigen Minuten zu Ende. Sie musste sich eine glaubwürdige Geschichte ausdenken, dann würde er sie vielleicht ein paar Tage in Ruhe lassen.
Ehe er wieder mit seinen Fragen zu ihr kam. Erneut strich sie ihr Kleid glatt und räusperte sich. »Ich dachte, ich würde ihn vielleicht sehen«, sagte sie. Sie hatte sich für die Wahrheit entschieden.
»Wen?«
»Den Typen, der uns überfallen hat. Ich dachte, er wäre vielleicht da.«
Er parkte direkt vor ihrem Haus. Amys weißer Hyundai stand in der Auffahrt, und als Courtney ihn erblickte, wusste sie, wie Will sie bei der Beerdigung
erkannt hatte. Er hatte auch am
Weitere Kostenlose Bücher