Der stumme Ruf der Nacht
Montag dort gestanden, und Will beobachtete gut.
Hinter dem Hyundai stand auch der Pickup von Amys Freund, und Courtney vermutete, dass sie sich nach dem Streit, den sie etwas früher am Abend mitbekommen hatte, wieder versöhnt hatten. Das war eines der Dinge, die das Leben in so einem Zweifamilienhaus mit sich brachte – ob man wollte oder nicht, war man in das Geschehen bei den Nachbarn involviert.
»Warum sollte er denn zur Beerdigung kommen, Courtney?«
Sie richtete den Blick wieder auf Will. Er schien in ihrem Gesicht nach einer Antwort zu suchen. Er wusste, dass sie ihm etwas verbarg.
»Es war kein spontaner Raubüberfall, oder?«
»Ich glaube nicht«, antwortete sie.
Es war überhaupt kein Raubüberfall gewesen. Der Kerl mit der Skimaske wollte David töten und es nach einem Mord mit anschließendem Selbstmord aussehen lassen. Irgendwer wollte sie beide umbringen und Courtney die Schuld in die Schuhe schieben. Seit Tagen zermarterte sie sich den Kopf, um eine plausible Erklärung zu finden.
»Und, haben Sie ihn bei der Beerdigung gesehen?«
Sie schüttelte den Kopf. »Ich glaube nicht. Ich hätte ihn an der Figur und den Augen wiedererkannt. Jedenfalls glaube ich es. Niemand sah ihm auch nur ähnlich.«
Will starrte durch die Windschutzscheibe und klopfte mit dem Daumen auf das Lenkrad. Er schien in Gedanken versunken. Auf einmal schaltete er den Motor
aus, stieg aus und ging um das Auto herum zu ihrer Seite.
Sie war zu Hause. Noch eine Nacht allein. Sie war so wach, als hätte sie den ganzen Abend in einem Café statt in einer Bar verbracht.
Quietschend ging die Autotür auf, und sie stieg aus.
»Danke fürs Begleiten«, sagte sie, als er die Tür zuschlug. Er stand vor ihr und sah sie so eindringlich an, als wollte er ihre Gedanken lesen. Versuchte er den Fall zu lösen, oder gab es da noch etwas anderes? Seine Miene verriet nichts, bis sein Blick einen Moment lang auf ihrem Mund verweilte.
Ein Gefühl bemächtigte sich ihrer. Vielleicht lag es am Wodka. Vielleicht an der Sommernacht. Oder an dem Mädchen im lavendelfarbenen Kleid, das sie daran erinnerte, wie allein sie als Kind gewesen war.
Vielleicht war es auch einfach Lust.
Egal was es war, sie gab dem Gefühl nach. Sie stellte sich auf die Zehenspitzen und küsste ihn. Er stand einfach da wie angewurzelt und berührte sie an der Hüfte. Doch plötzlich erwiderte er den Kuss, als sie ihren Mund sanft auf seinen legte. Sie hatte es gewusst. Sie spürte seine Anspannung, die verkrampfte stoppelige Backe unter ihren Fingerspitzen. Auf einmal war ihr nicht mehr vom Wodka schwindlig, sondern von dem Bewusstsein, auf diesen Baum von einem Mann Wirkung auszuüben. Als sie mit der Zunge sanft einen Mundwinkel berührte, war es um seine Selbstbeherrschung geschehen. Genau wie sie vermutet hatte. Und auf einmal schwebte sie, wurde hochgehoben, während sie ihn küsste und er sie wiederküsste, sie fest an beiden
Hüften packte und gegen den Van drückte. Sein Mund fühlte sich heiß und gut an, und er schmeckte ein wenig nach Pfefferminz.
Plötzlich ließ er von ihr ab und setzte sie langsam auf den Boden. Sie blinzelte ihn an. Schwer hob und senkte sich sein mächtiger Brustkorb.
»Komm mit rein«, hauchte sie.
Er wollte. Das Begehren stand ihm ins Gesicht geschrieben.
Aber in der nächsten Sekunde schien er es abzuschütteln. Ohne Vorwarnung wurden seine Augen leer.
»Ich kann nicht«, flüsterte er.
Sie lächelte ihn an. Ihr warmes süßes Lächeln, das sie seit Jahren verwendete, aber lange nicht mehr eingesetzt hatte.
Er wandte den Blick ab. »Ich bringe dich zur Tür.«
»Das musst du nicht.«
Ärger blitzte in seinen Augen auf. »Ich möchte aber.« Er nahm sie am Ellenbogen und geleitete sie zu ihrem Haus, fast wie ein ungezogenes Kind, das man hinausschickt.
»Du brauchst mich nicht zu führen«, zischte sie, nun selbst etwas wütend.
»Ich will dich sicher nach Hause bringen.«
Sie erreichten die Tür, wo sie die Schlüssel aus der Handtasche hervorkramte. Sie sperrte auf. Dabei presste sie die Zähne aufeinander, weil sie ihn neben sich spürte, diese mächtige Präsenz. Doch sie schluckte ihren Ärger runter und wandte sich mit einem breiten Lächeln zu ihm.
Sie hob die Hand, um ihm den Lippenstift von der
Unterlippe zu wischen. Als er bei der Berührung zusammenzuckte, wusste sie, dass ihm eine unruhige Nacht bevorstand. Sie wäre also nicht allein. »Gute Nacht, Detective«, gurrte sie. »Schlaf gut.«
Er hatte
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