Der stumme Ruf der Nacht
konnte, bezog der Lieutenant für alle ihre Fälle Prügel. In den letzten zwei Wochen hatte ihre Abteilung allein sieben Morde dazubekommen. Für gewöhnlich lag die Mordrate in Austin nicht so hoch. Daher war nun die Öffentlichkeit alarmiert. Und das außergewöhnlich heiße Wetter und die permanente Berichterstattung über die so genannte »Mörderhitzewelle« hatten nicht zur Beruhigung beigetragen.
Am Ende der Auffahrt wichen die Palmen mit Tropenpflanzen besetzten Beeten. Der Rasen darum war so perfekt, dass er auch als Golfplatz getaugt hätte. Vor einer Villa in mediterranem Stil stand ein riesiger Springbrunnen genau in der Mitte eines kopfsteingepflasterten Parkplatzes.
»Sieht so aus, als hätte die erste Mrs. Alvin ihre
große Chance vermasselt«, bemerkte Devereaux. »Ich schätze, sie ist ziemlich sauer.«
Zwischen dem Springbrunnen und der Haustür stand ein flacher silberner Lotus. Will parkte direkt dahinter. Devereaux stieß einen Pfiff aus.
»Du hast dir also die Ex näher angesehen?«, fragte Will und stellte den Motor ab.
»Ich habe mal überprüft, wen sie so anruft. Seit dem Mord hat Rachel Alvin sechzehn Mal mit Wilkers & Riley telefoniert. Immer direkt mit dem für Testamentsfragen zuständigen Anwalt. Ich habe ihn selbst angerufen, aber worüber sie gesprochen haben, wollte er mir nicht verraten.«
»Vielleicht will sie als Treuhänderin möglichst schnell den Nachlass in die Hände bekommen?«, mutmaßte Will.
Sie stiegen aus. Devereaux warf bewundernde Blicke auf den Lotus, während Will sich um das Nummernschild kümmerte. Privat fuhr Devereaux einen alten Ford Mustang – ganz in schwarz, einen echten Klassiker -, und Will nahm an, dass er ein Autonarr war.
»Ja, und wie ist diese Mrs. Alvin so?«, fragte Devereaux, als sie die Treppe zur Eingangstür emporstiegen.
»Höflich«, erwiderte Will und läutete an der Tür.
Er hätte erwartet, dass wieder das Hausmädchen öffnete, aber diesmal stand Claire Alvin selbst an der Tür. Sie trug ein kamelhaarfarbenes Kostüm und hatte ein Tuch mit Leopardenmuster um den Hals geschlungen. Die Diamantohrringe schätzte Will auf jeweils drei Karat.
»Detective Hodges«, sie trat beiseite und bat ihn, in die mit Marmor ausgelegte Diele zu treten.
Die Luft war von einem süßen Duft erfüllt, und er bemerkte auf dem Flügel im Wohnzimmer eine Kristallvase mit weißen Rosen.
Er bemerkte auch den grauhaarigen Anwalt, der mit beiden Händen in den Taschen lässig gegen einen Türrahmen gelehnt stand.
»Ich glaube, wir kennen uns noch nicht«, sagte Mrs. Alvin und reichte Devereaux die Hand. Nach der Begrüßung machte sie eine Geste zu Alvins Partner in der Kanzlei. »Haben Sie Peter Riley denn schon kennen gelernt?«
Riley kam zu ihnen und schüttelte Devereaux die Hand. »In meinem Büro«, sagte er und wandte sich an Will. »Obwohl Sie damals nicht dabei waren, oder?«
Auch Will gab dem Mann die Hand, nicht ohne sich zu fragen, warum er ausgerechnet heute hier war. Der Kerl war verheiratet und hatte Kinder. Deswegen fand er es etwas seltsam, dass er an einem Montagabend Alvins Witwe einen Besuch abstattete.
»Schön Sie zu sehen.« Er nickte ihnen zu. »Aber ich wollte gerade gehen.«
Als er verschwunden war, führte sie Mrs. Alvin in das Wohnzimmer, das mit Antiquitäten möbliert war. Dieses Ambiente war alles andere als Texaskitsch. Es wirkte irgendwie weiblicher und sah nach altem Geld und Reisen nach Europa aus. Das Zimmer bot einen überwältigenden Ausblick auf den Lake Travis, auf dem zahlreiche Boote und Jet Skis herumfuhren.
»Ich nehme an, Sie möchten mich über den Stand
der Ermittlungen aufklären«, sagte sie und bedeutete ihnen, Platz zu nehmen. Sie sah Will an, und er merkte, dass ihr hinter der Maske kühler Gefasstheit sehr bewusst war, dass sie nicht nur gekommen waren, um sie »aufzuklären«. Die Frau war klug genug zu wissen, dass sie ebenfalls zu den Verdächtigen gehörte.
Will nahm auf der von Kissen überquellenden weißen Couch Platz. Vorsichtig rutschte er nach vorne an den Rand, damit er nicht vollends darin versank.
»Wir verfolgen eine ganze Reihe von Spuren«, versicherte Devereaux, »und einige sind auch ganz vielversprechend.«
Mit einer grazilen Bewegung setzte sie sich in einen Sessel und schlug die Beine übereinander.
Devereaux neigte den Kopf zur Seite. »Und wie geht es Ihnen?«
Will kaufte ihm die Masche des einfühlsamen Freundes nicht ab, und er spürte, dass auch die Witwe ihm das
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