Der stumme Ruf der Nacht
Millionen, davon gute zwanzig Millionen für die Anwälte.«
»Warum dieser Nachlass?«, fragte Webb.
»Keine Ahnung.«
»Berufungsverfahren ziehen sich unendlich in die Länge«, meinte Cernak. »Statt ewig zu warten, wollte die Familie wahrscheinlich schnellstmöglich an das Geld.«
»Oder es gab irgendeine Schwachstelle in ihrem Fall«, sagte Devereaux. »Etwas, das sie befürchten ließ, dass sie eine Berufung verlieren könnten. Wenn es ein Berufungsverfahren gibt, kann das Urteil doch auch aufgehoben werden, nicht? Und da stand eine Menge Geld auf dem Spiel.«
Alle schienen überrascht von dieser Theorie. Aber Will beschloss, der Idee nachzugehen.
»Und wie steht es mit den Steuern?«, schlug Devereaux mit Blick auf Will vor. »Hast du bei den Steuerbehörden Material über Alvin oder die Kanzlei gefunden?«
Will schüttelte den Kopf. »Gar nichts.«
Webb schnaubte verächtlich. »Na klar, die meisten dieser Kerle sind auch auf Steuerrecht spezialisiert. Und wenn die ein krummes Ding drehen, sind die Steuerheinis ja wohl die letzten, die das mitbekommen.«
»Okay, kehren wir also zur lustigen Witwe zurück.« Devereaux kippte seinen Stuhl gefährlich nach hinten. »Nehmen wir an, sie wollte ihren Mann und seine Geliebten loswerden. Geld genug hat sie, um das zu erledigen, und wahrscheinlich kennt sie auch ein paar
Leute, die ihr da behilflich sein können. Der Papa führt das Unternehmen doch noch, oder? Da kann er sicher das eine oder andere zusätzlich richten.«
»Richtig«, pflichtete Will bei.
»Vielleicht hat er also ein paar Ganoven angeheuert, um das Problem seiner Tochter zu beseitigen.« Devereaux sah Webb an. »Hast du dir mal die Kontobewegungen angeschaut?«
»Nichts Außergewöhnliches«, sagte er.
Will schob die Reste seines aufgeweichten Paninos weg und blickte zu Cernak. Der Lieutenant schien sich von Take-away-Mahlzeiten und Kaffee zu ernähren, und das sah man ihm an. Vermutlich fehlte nicht mehr viel zum dritten Bypass. Und die Presse, die dieser Fall bekam, trug sicher nicht zur Senkung seines Blutdrucks bei. Zu allem Überfluss – und das war wohl der mit Abstand größte Stressfaktor – hatte Devereaux erfahren, dass der Polizeichef mit Alvins Schwiegervater Golf spielte. Natürlich wartete die Familie auf einen Durchbruch bei den Ermittlungen, so dass Cernak sich wohl nichts sehnlicher wünschte als eine Festnahme, um den Fall der Staatsanwaltschaft zu übergeben.
»Was ist mit deinem Professor? Diesem Pembry?«, wollte Webb von Devereaux wissen. »Kannte er Alvin oder Alvins Frau?«
»Gesellschaftlich verkehrten sie offenbar nicht miteinander«, antwortete Devereaux. »Allerdings habe ich in Pembrys Arbeitszimmer einen Artikel über Alvin gefunden. Es war ein Porträt, das vor ein paar Monaten erschienen ist. Er muss es aus einer Zeitschrift herausgerissen haben.«
»Und was ist mit Rachel Alvins Bruder?«, wandte sich nun Cernak an Devereaux. »Habt ihr ihn überprüft?«
»Bin noch dabei«, sagte Devereaux. »Aber das Geld, das sie abgehoben hat, hat wohl nichts mit uns zu tun. Es diente als Anzahlung für ein Auto, das sie für ihren Jungen gekauft hat. Trotzdem sollten wir das Thema Geld im Auge behalten. Das Ganze muss jemand einen schönen Batzen gekostet haben.«
Webb seufzte. »Ich fahre besser noch mal in die Kanzlei. Vielleicht gibt’s ja was Neues.«
»Und ich kümmere mich um den Schützen«, sagte Will. Es war höchste Zeit, dass er sich mal bei den Kollegen von der Sitte umhörte. Sie hatten sie gebeten, ihre Informanten anzuzapfen, ob sich in letzter Zeit jemand nach dem Preis für einen Mord erkundigt hatte.
»Kümmern Sie sich auch um Courtney Glass«, befahl ihm Cernak. »Finden Sie raus, was sie über Alvins Geschäfte weiß.«
»Danach habe ich sie schon gefragt.«
»Dann fragen Sie eben noch mal. Sie ist mit dem Kerl im Bett gewesen, also weiß sie wahrscheinlich mehr über ihn, als wir je rausbekommen werden.«
Ungeduldig blickte Courtney aus dem großen Schaufenster des Haarstudios. Will war spät dran. Hätte sie nicht diese Stilettos an, wäre sie wahrscheinlich schon längst zur Bushaltestelle gelaufen.
»Sind wirklich keine Nachrichten für mich da?«
Jasmin sah vom Solitär-Spiel auf ihrem Bildschirm auf. »Keine weiteren seit der Absage um zwei.«
Courtney sah zum zehnten Mal auf das Display
ihres Handys. Sie stöckelte zurück zum Spiegel. Sie hatte sich sogar die Mühe gemacht, ihr Make-up für ihn aufzufrischen, und er
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