Der Sucher (German Edition)
»Chisaai hieß er. Wir haben uns verliebt. Aber auch er musste irgendwann weiter, die Pflicht rief. Ein paar Wochen später bekam ich eine aufgeregte Nachricht von ihm, dass er etwas gefunden habe.«
Sie sprach nicht weiter, und schließlich musste ich fragen. »Und?!«
»Das war das Letzte, was ich von ihm gehört habe«, sagte Fyona Nell. »Niemand hat Chisaai je wieder gesehen. Er ist nicht von der Suche zurückgekehrt.«
O je , dachte ich. Das klang nicht gut. Aber es gab viele Erklärungen, was passiert sein konnte. Vielleicht war er überfallen und dabei getötet worden. Vielleicht war er in eine Gildenfehde geraten. Vielleicht hatte er einen Unfall gehabt. Ein Sucher lebt nun mal gefährlich. Da ich die Götter- und Geisterwelt unserer Gilde zwar mochte, aber nicht ganz ernst nehmen konnte, stand für mich ein Fluch oder etwas in der Art als mögliche Ursache ganz unten auf der Liste.
»Nun ja«, meinte Fyona, und ich spürte, dass sie das Thema wechseln wollte. »Dann sage ich dir einfach mal, was ich auch den anderen erzähle: Der Kerl, dem Markart die Schale verkauft hat, heißt Borras und lebt als Händler im Norden von Tassos. Wahrscheinlich wirst du als Nächstes dorthin wollen, schätze ich.«
Ich hörte nur halb zu; mein Kopf wälzte noch immer Theorien darüber, wie Chisaai umgekommen sein könnte. »Er muss ein sehr guter Sucher gewesen sein«, sagte ich, damit Fyona nicht durch mein nachdenkliches Schweigen irritiert wurde.
»Ja, ich glaube, er war sehr, sehr gut. Der Große Udiko selbst hat ihn ausgebildet. Vor mehr als zwanzig Wintern.«
Der Schock nahm mir den Atem. Als ich mich wieder etwas erholt hatte, dachte ich: Wieso wundere ich mich eigentlich? Natürlich hat Udiko vor mir andere Lehrlinge gehabt. Ein paar seiner Ehemaligen wie Akemi oder Rico Abras waren heute selbst bekannte Sucher und Sucherinnen. Es war nicht mal ungewöhnlich, dass von Udiko ausgebildete Leute auf die Jagd nach der Schale geschickt worden waren; schließlich war es Ehrensache, dass sie ihre Berufung beherrschten.
Nur ... Udiko hatte nie von meinen Vorgängern gesprochen. Bis auf dieses eine Mal, als er gesagt hatte, dass ich sein schwierigster und sein bester Lehrling gewesen war. Ich glaube, das, was ich fühlte, war so etwas wie Eifersucht. Ähnlich wie ein Junge, der erst als Jugendlicher erfährt, dass sein Vater noch weitere Kinder mit einer anderen Frau hat.
Ich hatte über eine Menge nachzudenken, als wir zu Fyonas Zelt zurückkehrten.
Abgehärtet
Mit fliegenden Fingern riss Jini das Bettzeug herunter, tastete die Strohmatratze ab, schüttelte ihre zwei Paar Schuhe aus, leerte ihr Reisebündel auf den Boden und kramte in dem herum, was herausfiel. Die Schritte im Gang waren mittlerweile so laut, dass selbst menschliche Ohren sie vernehmen konnten.
Verzweifelt zerrte Mi‘raela auch an dem Samt, der die Wände bedeckte. Am Rand löste er sich ganz leicht. Und gab ein kleines, glitzerndes Etwas frei! Mi‘raela schnaufte laut vor Erleichterung. »Hier ist es!«
Ihre Pfotenhand ergriff die kleine, mit Rubinen besetzte Brosche, die geschickt hinter den Wandbehang gepinnt worden waren. Die Zeit reichte nicht, um sie zu lösen, und so riss Mi‘raela sie einfach heraus. Jini erhaschte nur einen kurzen Blick auf die Brosche, dann witschte Mi‘raela damit zur Tür hinaus und verschwand in einen Seitengang ... nur wenige Momente, bevor Spinnenfingers Leute von der anderen Seite aus um die Ecke bogen und Jinis Kammer erreichten.
»Wie sieht es denn hier aus!«, hörte Mi‘raela einen erstaunten Ausruf.
»Ich mache gerade Großputz«, behauptete Jini. »Warum habt Ihr Euch nicht angekündigt? Dann hätte ich früher damit angefangen, wieder Ordnung zu schaffen ...«
Mi‘raela rannte weiter, zu den Gemächern der Regentin. Zum Glück war Großfrau gerade in einer Besprechung, und ihre Privaträume standen leer. Es kostete Mi‘raela nur wenige Atemzüge, die Wachen zu umgehen und die Brosche in die Schmuckschatulle zurückzulegen.
Die unsichtbare Macht der Quelle hinderte sie nicht daran. Etwas zu stehlen, ging nicht oder nur unter großen Mühen, aber woher sollte der magische Stein von Großfrau wissen, dass es manchmal genauso verboten war, etwas zurückzugeben?
Dann hockte Mi‘raela schwer atmend in einen Seitengang und überlegte, wie es weitergehen sollte. Ihre Gedanken schweiften zum Großen Büchermann. Wusste er, wer sie und Jini waren? Sie fürchtete schon. Spinnenfinger schickte sie nicht
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