Der sueße Kuss der Luege
gepresst, eigentlich fast genauso beunruhigt, wie ich mich fühle, aber das ist mir gerade so was von egal.
»Langsam, ganz langsam, also Lu, was ist passiert?«
Ich erzähle ihm, was ich weiß, dann will Diego mit den Mädchen sprechen. Gut, dass sie noch da sind. Ich stelle ihn auf laut, damit ich mithören kann. Er fragt sie, ob ihnen etwas aufgefallen ist, ganz egal, was. Etwas oder jemand, der nicht auf den Spielplatz gehört. Die beiden blicken sich an und schütteln die Köpfe, was Diego ja nicht sehen kann. »Nein«, sage ich, »haben sie nicht.«
Ob mir jemand gefolgt ist, ob ihnen jemand gefolgt ist, als sie von den Schaukeln weggegangen sind? Seine Fragen klingen tonlos und mir wird ganz anders. Diego vermutet das Schlimmste, so viel ist mal klar. Ob ihnen ein Mann oder eine Frau ohne Kinder aufgefallen ist, fragt er weiter. Würde Ida mit einem Fremden mitgehen, wenn der ein schönes Geschenk für sie hätte?
Nein, nein, nein, alles verdammt noch mal nein.
Dann will er wissen, wieso niemand mitbekommen hat, dass Ida in das Holzhäuschen gegangen ist. Die Mädchen heulen mittlerweile beide und sagen, sie hätten doch Verstecken gespielt und Ida deshalb nicht die ganze Zeit im Auge gehabt.
»Und du?«, fragt Diego und plötzlich klingt er unfassbar wütend, »Lu, verdammt, wo warst du?«
Die Tränen schießen mir in die Augen, ich schäme mich entsetzlich, zugeben zu müssen, dass ich so in mein Gespräch mit Ellen vertieft war, dass ich rein gar nichts gesehen habe. Nicht mal bemerkt habe, wie Ida mit den Mädchen von den Schaukeln weggegangen sind. Ich habe schon viele Fehler gemacht, aber der hier ist so grauenhaft, dass ich am liebsten auch einfach losheulen würde.
»Ich kümmere mich um alles, du darfst auf keinen Fall durchdrehen«, beschwört mich Diego. »Ihr bleibt auf dem Spielplatz, für den Fall, dass Ida sich nur verlaufen hat. Ich rufe die Kollegen von der Vermisstenabteilung an und dann melde ich mich wieder bei dir. Bis dahin solltet ihr ruhig bleiben. In mehr als neunzig Prozent der Fälle findet man das Kind schnell und unverletzt wieder.«
Und was ist mit den zehn anderen Prozent? Die werden von perversen Kriminellen verschleppt, versklavt oder getötet. Getötet. Mir wird kotzübel. Ich lege auf und setze mich auf die Bank, merke erst jetzt, wie sehr meine Beine zittern, stehe aber sofort wieder auf. Ich kann mich doch nicht hinsetzen und nichts tun! Ich werde den ganzen Spielplatz noch einmal durchkämmen, bestimmt haben wir nicht richtig gesucht, Ida, wir gehören zu den neunzig Prozent! Dort drüben am Sandspielplatz habe ich noch nicht hinter jeden Baum geschaut oder auf der anderen Seite bei den Schaukeln. Wenn ich daran denke, wie mucksmäuschenstill und geduldig Ida es heute Morgen zusammengerollt unter der grünen Wolldecke ausgehalten hat, kann ich mir durchaus vorstellen, dass sie irgendwo steckt und immer noch darauf wartet, dass wir sie finden. Und heute Morgen hast du auch schon telefoniert und sie ewig schmoren lassen .
Was für eine beschissene Tante ich bin! Ich renne auf die andere Seite des Platzes.
»Entschuldigung«, ruft Marie hinter mir her. »Wir müssen nach Hause, weil heute Feiertag ist. Meine Oma kommt zu Besuch.«
Ich bleibe ungeduldig stehen, weiß nicht, was ich jetzt tun soll.
Sophie schlägt schüchtern vor, dass ich mir ihre Namen aufschreibe, um sie anzurufen, wenn ich Ida gefunden habe, und sie beteuert noch mal mit erstickter Stimme, wie leid ihr das tut.
Ich ziehe mein Skizzenbuch heraus und notiere ihre Namen und die Telefonnummer, auch wenn ich in diesem Augenblick hoffe, dass ich sie nie, nie wiedersehen muss.
Dann laufe ich zum Sandkasten, der mir jetzt geradezu gespenstisch leer erscheint, als hätten alle gemerkt, was hier los ist, und ihre Kinder rechtzeitig in Sicherheit gebracht. Ich versuche, mich zu erinnern. Was habe ich gesehen, als ich mit Ellen geredet habe, war da jemand, ist mir etwas Besonderes aufgefallen?
Zwei Mütter kommen auf mich zu und fragen, ob etwas passiert ist, und als ich ihnen erkläre, dass Ida verschwunden ist, bieten sie mir sofort ihre Hilfe an. Schließlich gesellen sich noch Alex und eine Großmutter zu uns, sodass Idas Name wie ein vielfältiges Echo über den Spielplatz hallt. Aber unsere Suche bleibt ohne Ergebnis und mir wird mit jeder Minute banger und banger.
Schließlich versammeln sich alle Elternteile, jeder mit seinem Kind an der Hand, um mich herum und beschwören mich, die Polizei zu
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