Der sueße Kuss der Luege
lag. Sie rief immer lauter »Mama! Maaaamaaaaa!«. Schrie »Luuuuuu!«.
Aber nichts passierte, gar nichts. Sie schloss die Augen, dann zappelte sie mit beiden Beinen wie eine Seejungfrau, sie verdrehte ihren Oberkörper wie ein Schlangenmensch, doch die Knoten waren eng und fachmännisch geknüpft. Es würde ihr niemals gelingen, sich zu befreien, ihr Zappeln ließ sie nur außer Atem geraten. Und das war schlecht, denn so wurde die Luft immer weniger.
»Mama weg«, flüsterte Ida. »Papa weg. Lu weg.« Und dann nach einer langen Pause. »Ida weg.« Sie schloss ihre Augen und begann zu schluchzen. »Alle weg.«
Lu am Donnerstag, dem 7. Juni 2012, Fronleichnam, 14:30 Uhr
Die anderen Mütter schauen mich immer noch erwartungsvoll an. Als ich den Kopf schüttele, mischt sich wieder Leons Vater ein und sagt voller Verachtung. »Mit wem redest du denn da die ganze Zeit? Du gefährdest Ida. Man merkt, dass du nicht ihre Mutter bist! Hast du auch wirklich den Notruf angerufen?«
Die anderen schauen mich an, als wäre ich ein Volltrottel. Sie haben recht. Entschlossen tippe ich den Notruf und erkläre, dass ein Kind spurlos verschwunden ist. Während die Frau in der Leitung noch meine Daten abfragt, hören wir schon, wie sich die Sirenen dem Spielplatz nähern und ein Streifenwagen direkt vor dem Eingangstörchen bremst. Gleich dahinter kommt ein zweiter.
Die Frauen um mich herum bleiben stumm und bilden eine Gasse, durch die zwei uniformierte Beamte rennen. Ein Fragenhagel stürmt auf mich ein, die eine Polizistin mit einem blonden Pferdeschwanz will meinen Ausweis sehen und dann alles ganz genau wissen, wann Ida mit wem wo war. Noch während sie fragt, sehe ich, wie zwei Polizeibusse sich nähern und quietschend bremsen. Ein gutes Dutzend Polizisten stürmt heraus, einer von ihnen, ein korpulenter uniformierter Beamter, der sich als Kriminalhauptkommissar Hinze ausweist, scheint das Sagen zu haben. Er übernimmt und ich muss ihm ganz genau beschreiben, was Ida anhatte und wie groß sie ist, und das wird sofort über Funk an alle Einheiten weitergegeben mit dem eindringlichen Hinweis, nach einer solchen »Person« zu suchen. Während die anderen Beamten sich den restlichen Eltern widmen und eine ganze Truppe den Spielplatz durchkämmt, will Hinze wissen, wo die Eltern von Ida-Kim sind. Er lässt die Nummern überprüfen, die ich ihnen gebe, und stellt nach Rücksprache mit der Lufthansa fest, dass Yukiko und Christian tatsächlich im Flieger nach Hongkong sitzen, der um 21 Uhr unserer Zeit dort landen wird. Kriminalhauptkommissar Hinze ordnet an, dass über die Flugsicherung eine Telefonleitung zu den Eltern im Flieger hergestellt wird. Dann telefoniert er wieder und fordert weitere Verstärkung sowie einen Mantrailer an, einen Spürhund, der auf Menschen trainiert ist, wie er mir erklärt. Dann fragt er nach einem Bild von Ida, und als ich verwundert reagiere, weil ich das doch längst an einen Kollegen geschickt habe, schüttelt Hinze nur den Kopf, davon sei ihm nichts bekannt. Es läge keine aktuelle Vermisstenmeldung vor, wie ich denn auf so eine Idee käme?
Während zwei weitere Busse mit Polizisten vorfahren und auch ein Mann mit einem Golden Retriever aussteigt, entwickelt sich alles immer mehr wie in einem grauenhaften Albtraum, aus dem ich aufwachen möchte, dabei weiß ich ganz genau, dass es kein Entkommen gibt. Der Mann mit dem Hund nähert sich und fragt, ob wir etwas von Ida haben, an dem der Hund ihre Witterung aufnehmen kann.
Die Haarspange. Ich hole sie aus der Tasche meines selbst genähten Kleides und halte sie dem Hund hin, der schnuppert mit seiner schwarzen feuchten Nase daran und in diesem Augenblick zerbricht etwas in mir, nichts wird je wieder so sein wie vorher. In meinem Kopf dreht sich alles. Ida! Die süße kleine Ida.
Tränen strömen mir über das Gesicht. Wenn wir sie nur wiederfinden!
Der Hund hat wirklich Witterung aufgenommen und führt die Staffel zu dem kleinen Holzhäuschen und von dort zum rückwärtigen kleinen Tor, mit dem der Spielplatz eingezäunt ist. Dann geht es weiter auf die Straße, wo sich Idas Spur verliert. Und selbst ich kapiere, was das bedeutet. Sie wurde dort in ein Auto gebracht und verschleppt.
Die anderen Eltern sprechen mir noch einmal Mut und Hoffnung zu und verlassen den Spielplatz, die Polizisten haben ihre Zeugenaussage aufgenommen.
Mich nimmt Kriminalhauptkommissar Hinze mit zur Wache, damit ich dort die offizielle Vermisstenmeldung ausfüllen kann
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