Der Sumpf: Psychothriller (German Edition)
den aufgewühlten Bürgern der kleinen Stadt, die den Schock über die Ermordung des Kindes immer noch nicht überwunden hatten, den beinharten Detectives und nicht zuletzt der bitterbösen Ironie, die darin lag, dass ein verurteilter Mörder einen anderen Todeskandidaten auf den elektrischen Stuhl bringen konnte, indem er einfach nur schwieg. Denn genau das tat Blair Sullivan, indem er kategorisch alle Besuchsanfragen zurückwies, ob es sich um Reporter, Anwälte oder Polizisten handelte; selbst eine Crew von 60 Minutes ließ er abblitzen.
Ein einziges Mal – vielleicht zehn Tage nach Erscheinen der Reportage – rief er Matthew Cowart an.
Es war ein R-Gespräch. Cowart saß, nunmehr wieder in der Redaktion, an seinem Schreibtisch und las die Version der Geschichte in der New York Times (FRAGWÜRDIGES TODESURTEIL IN NORDWEST-FLORIDA), als die Ferngesprächsvermittlung ihn fragte, ob er einen Anruf von einem Mr. Sullivan in Starke, Florida, entgegennehmen wolle. Einen Moment war er perplex, dann aber hellwach. Er beugte sich vor und hörte die vertraute, melodische Intonation von Sergeant Rogers aus der Haftanstalt.
»Cowart? Sind Sie dran, mein Freund?«
»Hallo, Sergeant, ja. Was gibt’s?«
»Wir holen gerade Sully rüber. Er will mit Ihnen reden.«
»Wie läuft’s denn so bei Ihnen?«
Der Sergeant lachte. »Verfluchte Kiste, ich hätte es mir dreimal überlegen sollen, als ich Sie hier reingelassen habe. Seit Ihren Artikeln geht es hier zu wie im Taubenschlag. Jeder Häftling ruft bei jedem XY-Reporter quer durch den Bundesstaat an. Und jeder XY-Schmierfink steht hier auf der Matte, will die Männer interviewen, sich unsere Herberge zeigen lassen und weiß der Kuckuck was noch alles.« Das Lachen des Sergeants dröhnte in der Leitung. »Die Jungs sind mehr aus dem Häuschen als bei der Geschichte damals mit dem Stromausfall, wo auch noch der Notgenerator schlappgemacht hat und die Brüder glaubten, die Hand des Schicksals hätte ihnen die Tore geöffnet.«
»Tut mir leid, wenn ich Ihnen Unannehmlichkeiten bereitet habe …«
»Ach, was soll’s. Bringt ein bisschen Abwechslung in den grauen Alltag. Schwierig wird es natürlich, wenn sich der ganze Wirbel wieder legt und Normalität einkehrt. Was früher oder später unweigerlich der Fall sein wird.«
»Und Ferguson?«
»Bobby Earl? Der gibt nur noch Interviews, Vollzeitjob, die sollten ihm eine eigene Late-Night-Show im Fernsehen anbieten, der neue Johnny Carson oder Letterman.«
Cowart schmunzelte. »Und Sully?«
Es trat Stille ein, dann senkte der Sergeant die Stimme. »Das genaue Gegenteil. Stumm wie ein Fisch. Nicht nur gegenüber Reportern oder Seelenklempnern. Bobby Earls Anwalt hat’s schon fünf, sechs Mal bei ihm versucht. Vorladungen, Drohungen, Versprechen, das ganze Programm. Nichts hat gefruchtet. Der will einfach nicht reden, schon gar nicht über dieses kleine Mädchen in Pachoula. Er singt Kirchenlieder in seiner Zelle, schreibt noch mehr Briefe und liest stundenlang in der Bibel. Trotzdem fragt er mich aber immer wieder, was läuft, also halte ich ihn so gut ich kann auf dem neuesten Stand, bring ihm Zeitungen und Magazine. Er sieht jeden Abend fern, und er bekommt mit, wie diese beiden Polizisten Sie beschimpfen. Am Ende lacht er nur über das Ganze.«
»Was halten Sie davon?«
»Ich denke, er hat seinen Spaß. Nach seinem etwas eigenwilligen Geschmack.«
»Das ist unheimlich.«
»Seltsamer Vogel, sagte ich Ihnen ja bereits.«
»Und wieso will er dann mit mir reden?«
»Keine Ahnung. Hat mich heute früh einfach gefragt, ob ich ihn mit Ihnen verbinden kann.«
»Dann holen Sie ihn an den Apparat.«
Der Sergeant hüstelte. »So einfach geht das leider nicht. Sie haben sicher nicht vergessen, dass wir ungern auf gewisse Vorsichtsmaßnahmen verzichten, wenn wir Mr. Sullivan irgendwohin bringen.«
»Selbstverständlich. Wie sieht er aus?«
»Nicht anders als damals, als Sie ihn gesehen haben, außer vielleicht, dass er Spaß zu haben scheint. Ist förmlich aufgeblüht. Man könnte meinen, er hätte ein paar Pfündchen zugelegt, was nicht der Fall ist, so wenig, wie er isst. Wie gesagt, ich glaube, er amüsiert sich irgendwie, wirkt richtig lebendig.«
»Verstehe. Ach, übrigens, Sergeant, Sie haben mir noch nicht verraten, was Sie von der Reportage halten.«
»Nicht? Also, ich fand’s wirklich interessant.«
»Aber?«
»Na ja, Mr. Cowart, wenn Sie so wie ich lange genug in Gefängnissen gearbeitet haben, besonders im
Weitere Kostenlose Bücher