Der Tag, an dem das UFO vom Himmel fiel
Bibliothek geflogen, weil wir uns so angeschrien haben.«
»Also hat der Bus doch in Braxton gehalten …«
Selbstverständlich hatte er dort gehalten. Und heute war sie mit uns gekommen, mit Jeff und mir. Sie war in Braxton in den Bus gestiegen, hatte zu Jeff gesagt, er solle ein Stück rutschen, hatte sich auf den Sitz neben ihm geklemmt … Jedes Detail sah ich lebhaft vor mir. Wie hatte ich es vergessen können, auch nur für einen Moment? »Rosa«, sagte ich und merkte, wie meine Zunge sich um ihren Namen rollte.
»Wo warst du? Wieso bist du nicht wieder in den Zeitschriftenraum gekommen? Wir haben gewartet und gewartet.«
Rosa setzte sich auf den leeren Stuhl neben mir. Sie hatte ein Buch dabei, das sie auf ihren Schoß legte, wo ich es nicht sehen konnte. Ich roch ihr kräftiges Parfüm, wie es manche Mädchen in unserer Schule trugen, doch bei Rosa war es mir bisher noch nie aufgefallen. Wieso eigentlich nicht?
»Jeff hatte keine Lust mehr zu warten«, sagte sie. »Er hat ein ziemliches Theater gemacht, wie immer, wenn er seinen Willen nicht bekommt. Hat sich so aufgeregt, dass …«
»Ich war unten. Ihr wart weg. Der Raum war leer.«
»Hm?« Ihre Lippen öffneten sich. »Verstehe«, sagte sie einen Moment später, was meinen Augen und meinem Verstand genügend Zeit gab, sich an ihren Lippen festzusaugen. Nicht ganz rosenrot, wie die Dichter sagen. Doch rot genug und voll, auch ohne Lippenstift. Ich war zu hypnotisiert, in diesen paar stillen Momenten, um sie zu fragen, was sie verstanden hatte. »Schließlich sagt er zu mir: ›Komm schon! Zur Hölle mit Danny! Wir fahren nach Hause.‹ Ich habe ihm gesagt, er kann mich mal.«
»Du hast ihm was gesagt?«
»Dass er mich mal kann .« Sie hörte auf zu flüstern. »Soll
er doch meinetwegen nach Hause fahren und sich seine dämlichen Musicals anhören. Ich wollte dich nicht allein lassen.«
Eine Bibliothekarin sah tadelnd zu uns herüber und hielt einen Zeigefinger an ihre Lippen. Bald würde man uns wirklich rauswerfen. Rosa legte mir eine Hand aufs Knie. »Also ist er allein losgefahren«, sagte sie. »Jetzt hör mal, Danny …«
»Dürfte ich um Ihre Aufmerksamkeit bitten? Die Bibliothek schließt in zwanzig Minuten. Bitte bringen Sie alle Materialien zur Ausgabe …«
Und immer so weiter, während ich an Jeff dachte und daran, was er machen würde, wenn Rosa nicht seine Freundin wäre, und ob sie ihn eigentlich wirklich so gern hatte. Ob wir nach dieser Geschichte noch Freunde sein konnten. Unser Delta-Sender – einst die Verbindung zwischen uns – war nur noch Schrott, ein klobiges, kindisches Spielzeug aus dem Werkunterricht der achten Klasse.
»Was hast du da für ein Buch?«, fragte ich, als die Lautsprecherstimme fertig war.
»Es gehört denen.«
Noch immer lag es auf ihrem Schoß. Ich versuchte zu erkennen, was es war, dann blickte ich verlegen auf. Bestimmt dachte sie, ich wollte unter ihren Rock schielen. Als sie es in die Hand nahm, warf ich einen kurzen Blick auf das Umschlagbild: eine zerlumpte, verdrehte Puppe, deren Haare strähnig über das abgewandte Gesicht fielen. Und ich sah den Titel: Der Skandal von irgendwas. »Es geht um …«, sagte ich und merkte, dass ich rot wurde, weil ich wusste, was dieser Skandal sein musste, ohne aber ein Wort dafür zu haben.
»Das stimmt. Damit ich weiß, wieso Helen mir das antut, was sie mir antut. Ich nehme es mit, wenn wir gehen.«
Helen war ihre Mutter. Ich hatte noch nie gehört, dass Rosa
sie bei ihrem Vornamen nannte. »Du nimmst es mit? Hast du denn einen Leihausweis? Lassen sie dich raus …?«
»Nein, ich habe keinen Leihausweis. Und ich sagte ›nehmen‹, nicht ›leihen‹. Der fette Clown, der die Taschen kontrolliert, guckt bestimmt nicht unter meinen Pulli … Verdammte Scheiße!« , fauchte sie, mit einer Grimasse, die besser zu einem Schrei gepasst hätte. »Hör auf, mich so anzusehen! Du Musterknabe! Du hast überhaupt keine Ahnung, was ich durchmache.«
»Und ich? Weißt du denn, was ich … ?«
Mit dem Finger berührte sie den Schorf an meinem Mundwinkel, wo ein Pickel gewesen war. Ich wich zurück. Ich wollte nicht daran erinnert werden, woher dieser Schorf kam. »Du hast es auch nicht leicht«, sagte sie. »Ich weiß es. Ich bin nicht blind. Aber hör mir zu. Es gibt da etwas, das du wissen musst.« Sie zog ihren Stuhl näher heran. Ihre Stimme wurde leiser. »Es war in einer dieser alten Zeitungen. Aus Florida. Keine Sorge, ich hab dir alles
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