Der Tag der Messer: Roman (German Edition)
eingezwängt waren, wurde es schlagartig dunkler. Schon bei Tag reichte das Licht in den älteren Stadtteilen nur schwach bis zum Boden. In manchen Gassen von Daugazburg flogen selbst zur Mittagsstunde noch Fledermäuse. Jetzt war es hier pechschwarz, außer in den Gassen, wo um der Menschen willen Lichter brannten.
Darnamur hörte ein Rascheln über sich und blickte auf. Etwas Helles glitt vor ihm herab wie ein fallendes Blatt. Es schimmerte bleich im Licht einer fernen Laterne. Dranjar hob es auf.
»Ein Stück Papier!«, stellte er fest. »Wo kommt das her?«
Rufe erklangen aus den Gassen ringsum. Weitere Blätter schwebten wie übergroße Schneeflocken auf das schmutzige Pflaster.
»Jemand wirft Blätter von der Turmspitze«, sagte Darnamur. »Verdammt viele Blätter. Komm schnell.«
Er entriss Dranjar das Blatt und schob es unter die Weste. Dann zog er den jüngeren Gnom mit sich. Sie tauchten in eine lichtlose Seitengasse und hasteten durch die Straßen. In einem weiten Bogen setzte Darnamur den Weg zum Roten Drachen fort.
Dranjar protestierte. »Die Blätter wurden von einem Turm geworfen. Uns wird hier unten auf der Straße wohl niemand deswegen anhalten.«
»Goblins werden sich darum kümmern, sobald sie auf die Blätter aufmerksam werden«, erwiderte Darnamur. »Sie werden nicht groß unterscheiden zwischen dem, der sie geworfen hat, und denen, die sie aufsammeln.«
In einem geschützten Innenhof, wo etwas Licht brannte, holte er das Blatt wieder hervor. Die beiden Gnome lasen gemeinsam darin.
»Ach du meine Güte«, sagte Dranjar. »›Die Einheit der Vielen kann nicht gewährleistet werden, wenn die Vielen von der Einheit ausgeschlossen und ungehört bleiben. Verleiht daher eurem Protest wider die unangemessene Repression dringend notwendiger Reformbestrebungen Ausdruck, indem ihr …‹ Wer hat das denn geschrieben? Und wer soll das Geschwafel bis zum Ende lesen?«
»Aber sein Papier ist gut«, stellte Darnamur fest. Er betastete das Blatt zwischen Daumen und Zeigefinger, dann hielt er es hoch und ließ das Licht hindurchscheinen. »Es sind kaum Fasern zu erkennen. Erstaunlich, dass jemand in diesen Zeiten überhaupt genug Papier bekommt, um es in solchen Mengen vom Turm zu werfen. Immerhin liefern die Bitaner uns weder Papyrusstängel noch fertige Blätter.«
»Oh ja«, sagte Dranjar. »Und die Buchstaben sind so ebenmäßig. Das ist ein Druck, aber ungemein gleichförmig gestochen …«
»Das ist nicht gestochen«, widersprach Darnamur. »Die Buchstaben wurden in Formen gegossen und die Druckplatte daraus zusammengesetzt. In manchen bitanischen Provinzen gibt es Akademien, die seit einigen Jahren ihre Schriften auf diese Weise verbreiten. Ich habe während des Krieges davon gehört.«
»Papier und bitanischer Druck – haben wir etwa bitanische Provokateure in der Stadt?« Dranjar klang erschrocken.
Auch Darnamur fühlte sich unbehaglich. Mit dieser Art, einen Krieg zu führen, war er nicht vertraut. Aber er hatte gehört, dass der Freie Rat von Menschen, Elfen und Zwergen sich vor einiger Zeit auf einen neuen Anführer geeinigt hatte: auf Gulbert den Zauberer. Darnamur kannte diesen Namen, und dem Zauberer, der ihn trug, traute er jede Hinterlist zu.
»Ich hätte sonst geglaubt, es stecken Kobolde dahinter«, fuhr Dranjar fort. »Weil hier von den ›kleinen Völkern‹ die Rede ist. Und nach einem Gnom klingt es nicht!«
»Wer auch immer das geschrieben hat«, befand Darnamur. »Er hat Mittel zur Verfügung. Material und Wissen.« Er rieb sich nachdenklich die Nase. »Ich denke auch, es stecken Kobolde dahinter. Aber womöglich ziehen andere dieselben Schlüsse wie wir. Und wenn Kobolde und bitanische Spione erst einmal in einem Atemzug genannt werden, haben wir bald ein blutiges Kesseltreiben in der Stadt.«
»Komm herein«, sagte die Stimme von der anderen Seite, und Frafa öffnete die Tür.
Bleidans Arbeitsraum war lang gezogen, mit einem großen Fenster am gegenüberliegenden Ende. An der einen Längswand standen Käfige übereinander, mit Ratten, Mäusen, kleinen Affen, Grasdrachen und roten Salamandern, dazwischen Glaskästen mit Blutwanzen, Borstenspinnen, Goldkornspinnen und Blutwürmern. Auf einem Regal gegenüber lagerte der Nachtalb seine Präparate, Gläser mit missgebildeten Föten, bleichen Kröten, noch schlagenden Herzen und vielen anderen Gebilden, denen nicht anzusehen war, ob sie noch lebten oder ob sie überhaupt jemals gelebt hatten.
Gleich beim Fenster stand
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