Der Tag der Rache. Private Berlin
Ilona. Ilona Frei.«
Der Mann zog ein Gesicht, als würde er einen Geist oder einen Zombie sehen. »T ut mir leid«, sagte er. »I ch kenne Sie nicht.«
Ilona hatte das Gefühl, einen Schlag ins Gesicht zu bekommen. »I ch bin Ilses Schwester, Kiefer. Bitte, du kennst mich, und du weißt, was mit uns im Schlachthaus passiert ist.«
»N ein, weiß ich nicht«, wehrte er ab, aber ohne ihr noch weiter ins Gesicht zu blicken.
»C hris ist tot!«, schrie Ilona ihn an. »U nd Greta! Und Ilse! Und Artur!«
Krainer ließ den Kopf ungläubig nach hinten schnellen. »W as? Ich…«
»F alk lebt«, brachte sie nur noch undeutlich heraus. »E r hat gestern Abend versucht, mich umzubringen. Und bei dir wird er es auch versuchen, wenn er herausfindet, wer du bist.«
Plötzlich wirkte Krainer völlig abwesend, als sähe er in weiter Ferne etwas ganz Entsetzliches.
»W enn du nicht redest, hat er gewonnen«, flehte Ilona. »B itte, sag es ihnen. Sie glauben, ich bin geistesgestört. Sag es ihnen, sonst glauben sie mir nicht. Und dann werden wir beide sterben!«
1 06
Krainers Unterkiefer zitterte, und Tränen traten in seine Augen, als er Ilona Frei wieder ins Gesicht blickte. »I ch habe nie darüber gesprochen, Ilona«, sagte er wie ein kleiner Junge. »K ein Wort.«
Ilona ging zu ihm und legte weinend eine Hand auf seine Schulter. »I ch weiß. Niemand von uns hat darüber gesprochen. Niemand.«
»E r hat gesagt, er würde uns sonst umbringen.«
»F alk plant bereits, Sie zu töten«, sagte Weigel. »W ir bieten Ihnen Schutz, aber nur, wenn Sie uns sagen, was wir wissen möchten.«
Eine Stunde lang erzählte Krainer seine Geschichte brockenweise, doch im Großen und Ganzen passte sie zu dem, was Ilona Frei am Abend zuvor Mattie und Tom erzählt hatte.
Krainer war in Leipzig geboren und dort unter dem Namen Edmund Tillerman getauft worden. Als er sechs Jahre alt war, verschwand sein Vater, ein Anwalt, der die kommunistische Regierung kritisiert hatte, ohne jede Spur. Ilona Frei hatte ursprünglich Karin Klauser geheißen, Ilses ursprünglicher Name war Annette gewesen. Die beiden Schwestern waren in Thüringen geboren und aufgewachsen. Ihr Vater, ein Wissenschaftler, war verschwunden, als Ilona acht und Ilse fünf Jahre alt gewesen waren. Mehrere Wochen nach dem Verschwinden ihrer Väter hatten Männer mitten in der Nacht an ihre Türen geklopft, und ihre Mütter hatten geweint und um Gnade gefleht.
Die Männer zerrten die Kinder aus den Betten und brachten sie zusammen mit ihren Müttern zum Schlachthaus in Ahrensfelde. Dort wurden sie in die Ställe rechts und links des Flurs gesteckt, die mit an die Mauern geschraubten Schlafkojen, mit Metallnachttöpfen und nur wenigen anderen Dingen ausgestattet waren. Gleichzeitig fünfzehn Frauen mit insgesamt sechzehn Kindern waren dort untergebracht.
Mitten in der Nacht kam ein junger Mann, höchstens zwanzig Jahre alt, in die Ställe. Sie kannten ihn nur als »F alk«. Fast jeden Abend suchte er eine Mutter mit ihrem Kind oder ihren Kindern aus und führte sie ins Innere des Schlachthauses. Falk fügte den Müttern unerträgliche Schmerzen zu– er hängte sie an ihren Handschellen an Fleischerhaken auf, so dass ihre Arme ausgekugelt wurden. Er drückte seine Zigaretten an ihren Fußsohlen aus, peitschte sie aus, fügte ihnen Schnittwunden zu und vergewaltigte sie, damit sie gegen ihre Ehemänner, die Freunde ihrer Ehemänner und ihre Familien aussagten.
Falk ließ Krainer, Chris, Ilona und die anderen Kinder zusehen. Er wollte die Folter der Mütter so unerträglich wie möglich machen, damit sie auf jeden Fall über die angeblichen Verbrechen gegen den Staat aussagten. Wenn das nicht funktionierte, folterte Falk die Kinder vor den Augen ihrer Mütter.
»U nd wenn er dachte, dass er alles aus unseren Müttern herausgequetscht hatte, tötete er sie mit einem Schraubenzieher und warf ihre Leichen in einen Brunnen voller Ratten«, erzählte Krainer.
1 07
Krainer brach völlig zusammen. »D anke, Kiefer«, sagte Ilona und umarmte ihn. »J etzt müssen sie es glauben.«
»I ch lasse Ihnen einen Moment Zeit«, gestattete Weigel. Sie erhob sich, aschfahl im Gesicht, und blickte zum einseitig durchsichtigen Spiegel, bevor sie zur Tür ging.
Hauptkommissar Dietrich sah weitaus schlimmer aus als nur verkatert, dachte Mattie, während er die beiden Menschen im Verhörzimmer mit so etwas wie Hoffnungslosigkeit anstarrte. Doch als Sandra Weigel das Beobachtungszimmer betrat und
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