Der Tag der Traeume
würde endlich einsehen, dass ein Leben in festen Bahnen keine unvorstellbaren Schrecken bot, und die Vorteile eines festen Familienverbandes schätzen lernen. Vielleicht hatten sie beide dann doch noch eine gemeinsame Zukunft.
»Danke«, flüsterte sie nahezu unhörbar.
»Du brauchst dich nicht bei mir zu bedanken.« Seine Stimme klang barscher, als er beabsichtigt hatte. Es gab nicht viel, was er nicht für sie getan hätte, aber sie war noch nicht bereit, das zuzulassen. Außerdem hatte auch sie ihm etwas gegeben, indem sie seinem Vorschlag zugestimmt hatte. Nun konnte er den Rest des Sommers mit ihr und ihrer Schwester verbringen.
Aber er ging damit ein großes Risiko ein, das wusste er. Ein kluger Mann würde einen Rückzieher machen, genau wie Kendall ihm geraten hatte, ein risikofreudiger Mensch jedoch am Ball bleiben.
Rick Chandler war noch keiner Herausforderung aus dem Weg gegangen, aber diesmal galt es, höllisch aufzupassen, dass dieser Schuss nicht nach hinten losging.
Nach einer schlaflosen, von Sorgen beherrschten Nacht wachte Kendall wie gerädert auf und ging in die Küche, wo sie ihre Schwester hellwach und bereits geduscht und angekleidet vorfand. Falls man Hannahs knappe Shorts und das noch knappere bauchfreie Oberteil als vollständige Kleidung bezeichnen konnte. Kendall wollte sie gerade fragen, ob sie wirklich vorhatte, in diesem Aufzug auf die Straße zu gehen, als ihr einfiel, in was für Sachen sie an ihrem ersten Tag in Yorkshire Falls durch die Stadt marschiert war, nachdem sie sich aus ihrem Brautkleid geschält hatte.
Anscheinend hatte Rick Hannah richtig eingeschätzt. Ihre Schwester war ihr ähnlicher, als sie anfangs angenommen hatte, von der auffallenden Haarfarbe über die aufreizende Kleidung bis hin zu der Verletzlichkeit, die sie nach Kräften zu verbergen trachtete. Hannahs schrilles Äußeres und ihr großspuriges Auftreten waren nur ein Mittel zum Selbstschutz. Sie rannte vor ihren Gefühlen davon, statt sich mit ihnen auseinanderzusetzen. Und Kendall kannte den Grund dafür nur allzu gut. Sie wusste, wie man sich als unerwünschtes Kind fühlte, und obgleich ihre Eltern versucht hatten, die Fehler, die sie bei Kendall gemacht hatten, nicht bei Hannah zu wiederholen, schien Hannah von denselben Zweifeln und Ängsten geplagt zu werden wie Kendall damals.
Kendall seufzte. Vor Hannah und ihr schien ein langer, steiniger Weg zu liegen. Am besten nahm sie ihn gleich in Angriff. »Morgen, Hannah.«
Ihre Schwester fuhr herum, eine Flasche Orangensaft in der Hand. Ein verräterischer gelblicher Bart zierte ihre Oberlippe.
»Gläser sind hier drin.« Kendall öffnete einen der hohen Schränke, die sie am Tag zuvor sauber gemacht hatte. »Sie passen zwar nicht zusammen, aber sie erfüllen ihren Zweck. Gespült habe ich sie auch, du brauchst also keine Angst zu haben, dir irgendwas zu holen.« Sie lachte leise.
Hannah zuckte nur die Achseln, dann griff sie nach einem Glas.
»Du bist früh auf. Ich hatte gedacht, nach gestern Nacht würdest du erst einmal ausschlafen.«
»Müssen wir unbedingt jetzt darüber reden?«, maulte Hannah.
»Ich sprach von deinem frühen Aufstehen, nicht von letzter Nacht. Aber wir müssen trotzdem eine Art Hausordnung aufstellen. Solche Vorfälle dürfen sich nicht wiederholen.«
Lautes Hupen ertönte. »Aha, da ist mein Privattaxi.« Hannah stellte das unbenutzte Glas wieder weg.
Kendall runzelte verwirrt die Stirn. »Wie bitte? Du kennst doch noch überhaupt niemanden in der Stadt.«
Hannah starrte sie nur aus zu stark geschminkten Augen trotzig an. Kendall musterte sie nachdenklich. War der Eyeliner nun schwarz oder dunkelviolett? Schwer zu sagen, so dick, wie sie ihn aufgetragen hatte. Genau wie die Grundierung. Während ihrer Zeit als Model hatte Kendall den einen oder anderen Schminktrick aufgeschnappt. Wenn es ihr gelang, Hannahs emotionalen Schutzwall zu durchbrechen, konnte sie vielleicht auch versuchen, die zentimeterdicke Make-up-Schicht abzutragen.
»Wer holt dich denn ab?«, fragte sie dann.
»Rick. Wir haben ein Date.« Hannah drehte sich um, stolzierte aus dem Raum und knallte die Tür hinter sich zu.
»Sie will mich provozieren«, murmelte Kendall. »Sie will mich ganz eindeutig provozieren.« Ein rascher Blick aus dem Fenster bestätigte ihr, dass es tatsächlich Rick war, der draußen auf Hannah wartete. Eins zu Null für diesen Teufelsbraten, dachte Kendall, ohne sich weiter den Kopf darüber zu zerbrechen. Was auch
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