Der Tag der Traeume
Ernst – ich habe wirklich wundervolle Söhne. Sie sind immer für mich da, wenn ich sie brauche.« Dabei legte sie viel sagend eine Hand auf die Brust.
Aber ihr Blick schweifte zu einem Punkt am anderen Ende des Raumes; sie wirkte plötzlich, als habe sie irgendetwas zu verbergen, und darauf konnte sich Rick nun überhaupt keinen Reim machen.
»Und deshalb«, fuhr Raina fort, »ist es mir ein ganz besonderes Vergnügen, euch jetzt meine eigene Lieblingsgeschichte über meinen mittleren Sohn zu erzählen.«
»Kann ich vorher gehen?«, fragte Rick trocken.
»Nur wenn du mit Gewalt zurückgeschleift und mit deinen eigenen Handschellen an deinen Stuhl gekettet werden willst«, rief jemand aus der Menge.
Kendall unterdrückte ein Lachen, konnte jedoch nicht verhindern, dass ihr ein leiser Hickser entschlüpfte.
»Schon gut, weiter im Text«, knurrte Rick gottergeben.
Er legte einen Arm um seine Mutter, weil er trotz allem dankbar war, dass sie sich bemüht hatte, ihm einen besonders schönen Abend zu bereiten – und auch froh darüber, dass sie noch da war, um mit ihm feiern zu können. Dass sie noch da war. Bei dem Gedanken schien sich eine eiskalte Hand um sein Herz zu schließen, und augenblicklich fühlte er sich wieder schuldig, weil Rainas größter Wunsch im Leben bislang unerfüllt geblieben war.
Enkelkinder. Beinah wäre es soweit gewesen, damals, als er Jillian geheiratet hatte. Raina hatte, großzügig, wie sie war, schon Pläne für Jillians Baby geschmiedet und sich so darauf gefreut, als wäre es Chandlersches Fleisch und Blut. Sie hatte auch Jillian, die von ihren eigenen Eltern aus dem Haus gejagt worden war, aufrichtig lieb gewonnen und war genau wie Rick außer sich vor Kummer gewesen, als sie mit ihrem früheren Freund durchbrannte. Aber sie hatte Rick nie Vorwürfe gemacht und nie versucht, mit ihm über Jillian zu sprechen, wenn er nicht dazu bereit war. Weil sie seine Mutter war und ihn vorbehaltlos liebte. Aber inzwischen waren viele Jahre vergangen, und noch immer waren keine Enkel für Raina in Sicht, noch nicht einmal von Roman, der vor ein paar Monaten geheiratet hatte.
Enkel, dachte er wieder, dabei wanderte sein Blick zu Kendall.
»Was ich euch erzählen möchte, hat sich ereignet, als Rick drei Jahre alt war.« Rainas Stimme und die Kindheitserinnerungen, die sie in ihm weckte, boten eine willkommene Ablenkung von fruchtlosen Grübeleien über längst vergangene Zeiten.
»Ich dachte, wir wären schon bei seinen Highschooljahren angelangt«, warf Roman ein.
Wie Rick schien auch er zu ahnen, worauf ihre Mutter hinauswollte, und war nicht sonderlich begeistert davon. Rick warf seinem jüngsten Bruder einen dankbaren Blick zu, obwohl sie beide wussten, dass Raina sich nicht aufhalten lassen würde. Und sie behielten Recht.
Ohne auf Roman zu achten drehte sich Raina zum Publikum, um den größtmöglichen Effekt zu erzielen. »Ratet mal, als was mein Junge damals zu Halloween gehen wollte.«
»Vermutlich war es nichts so Banales wie ein Geist oder Kobold.« Kendall lehnte sich zu Rick; ihre Brüste streiften seinen Arm.
Rick unterdrückte ein Stöhnen, dann schüttelte er den Kopf. »Hör einfach zu.«
»Chase, Rick und ich saßen zusammen im Auto, als Rick verkündete, sich zu Halloween als Fee verkleiden zu wollen.«
Die Menge brach in schallendes Gelächter aus, und Beifall brandete auf. Wieder begannen Ricks Wangen zu glühen. Verdammt, er war doch kein kleiner Junge mehr! Trotzdem musste er über die Geschichte unwillkürlich schmunzeln. Kendall dagegen konnte gar nicht mehr aufhören zu lachen, bis er ihr einen leichten Rippenstoß versetzte.
»Tut mir Leid«, keuchte sie zwischen zwei erstickten Atemzügen. »Ich stelle mir das gerade nur bildlich vor … ich kann’s einfach nicht glauben.«
Rick verdrehte die Augen. »Mir fällt es auch schwer, aber sie schwört Stein und Bein, dass die Geschichte wahr ist.«
»Ach ja?« Ihre vollen Lippen zeigten ein Lächeln.
»Erzähl uns mehr von der Fee«, verlangte eine Stimme, die verdächtig nach Samson klang.
Rick schüttelte den Kopf. Jetzt blieb ihm nichts anderes übrig, als das Ganze mit zusammengebissenen Zähnen über sich ergehen zu lassen. Wobei seine Gedanken nur noch darum kreisten, mit Kendall allein zu sein. Möglichst in der Nähe eines Bettes.
»Nun, da ihr schon fragt …« Raina kicherte. »Ricks Großmutter hat ihm das Märchen von Cinderella vorgelesen, und ihm hatte es die gute Fee angetan, die alle
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