Der Tag ist dein Freund, die Nacht dein Feind (German Edition)
Schild mit der Aufschrift Exit an der nächsten Weggabelung, das einen Pfeil in die entsprechende Richtung bildete. „Noch etwas: L aufen Sie nicht zwischen den Grabstätten herum. Sie könnten sich verirren und bis zur Dunkelheit nicht mehr hinausfinden. Niemand bleibt freiwillig auf dem Highgate nach Einbruch der Dunkelheit.“
Emily wagte nicht daran zu denken, was er mit dieser Äußerung meinte und zog es vor, auch nicht danach zu fragen.
Dann war sie plötzlich alleine mit sich und den Jahrhunderte alten Gräbern unzähliger Verstorbener. Wichtige Persönlichkeiten waren hier bestattet, doch seltsamerweise machte ihr der Gedanke an die Verstorbenen keine Angst. Es waren vielmehr die architektonischen Meisterleistungen an sich, die sich ihr bedrohlich zu nähern schienen.
Die Gruft der Watsons war beinahe lächerlich klein im Vergleich zu anderen Gewölben und Mausoleen auf dem Friedhof. Ein schlichtes, kirchenart iges Gebilde im gotischen Stil, eine Kapelle im Miniaturformat, versehen mit einer einfachen, massiven Holztür. Emily drückte die Klinke herunter und zuckte erschrocken zurück: D ie Tür war nicht abgeschlossen. Sie schalt sich selbst für ihre Dummheit. Was hätte sie schon bei einer Gruft gesollt, die man nicht betreten konnte!
Ihr schauderte vor dem Gang hinein und das Herz schlug ihr bis zum Halse . Was hätte sie dafür gegeben, nun einen starken Mann an ihrer Seite zu haben. Nicht den Verwalter. Einen Partner, dem sie vertraute und der sie beschützte. Aber es gab niemanden, der sie beschützen würde. Sie war, wie immer, auf sich allein gestellt.
Plötzlich kam ihr ein tröstender Gedanke. Es mochte albern sein, aber sie holte das Silberkreuz aus ihrer Handtasche und hielt es fest in der Hand, während sie nun die Türe öffnete, die Taschenlampe einschaltete, die der Verwalter ihr für 10 Pfund verkauft hatte und langsam die brüchige , alte Steintreppe in die Gruft hinunter stieg.
Als sie unten ankam, atmete sie zunächst erleichtert auf. Sie hatte damit gerechnet, dass uralte, halb verfallene Särge offen aufgebart waren. Doch was sich ihr bot, war ein weitaus angenehmeres Bild: Särge und Urnen waren in Öffnungen in den Wänden eingelassen und mit Steinplatten versiegelt worden, die als Grabsteinersatz dienten. Alles, was man sah, waren also beschriftete Steinplatten rechts und links, die in regelmäßigen Abständen Bestandteil der Wände waren.
Nachdem sie sich an den intensiv modrigen Geruch gewöhnt hatte und wieder frei atmen konnte, holte Emily den Zettel aus dem Schließfach wieder aus ihrer Handtasche hervor. Sie wollte das hier schnellstmöglich erledigen und den Friedhof dann wieder verlassen. Sie lenkte den Schein der Taschenlampe auf das Stück Papier und las noch einmal die Notiz ihrer Mutter.
„Edward Paul George Watson. Wo bist du. Wenn Mama dich hier vermerkt hat, musst du tot sein und hier irgendwo liegen.“ Sie ging die Grabsteine einzeln ab, bis sie den richtigen Stein gefunden hatte. Es war das zweitälteste Grab. Dieser Urahn war vor fast dreihundert Jahren gestorben!
„Herr im Himmel, was hat denn das jetzt schon wieder zu bedeuten?“ Sie strich vorsichtig über die Schrift des verwitterten Steins. Der Name war zwar nur noch unde utlich zu erkennen, aber es war eindeutig der Gesuchte. Er war außerdem kleiner geschrieben als die auf den anderen Grabsteinen, weil ein Gedicht darunter gesetzt worden war. Als die junge Fr au es las, stockte ihr der Atem und sie konnte nur knapp dem Bedürfnis widerstehen, schreiend aus der Gruft zu rennen.
Er ließ sein Leben für die Seinen,
Die in Trauer um ihn weinen.
Fürchtet euch vor dem Engel der Rache!
Wenn der Letzte hat gebüßt,
Der Fluch der Rache ist gelöst!
Für Emily klang das, als hätte es für irgendjemanden keine Chance gegeben, zu entkommen.
Plötzlich fiel ihr der Brief ihrer Mutter ein und dass auch sie darin von einem Fluch gesprochen hatte . Sie musste dieses Gedicht gemeint haben, sonst hätte sie sie nicht explizit auf diesen Grabstein verwiesen.
Vor lauter A ngst war Emily nicht mehr fähig, klar zu denken. Sie nahm einen kleinen Notizblock aus ihrer Tasche und schrieb sich hastig den Namen des Verstorbenen, das Geburts- und Todesdatum und das Gedicht ab, während sie nur stoßweise und mit Mühe atmete, packte alles wieder zurück in die Tasche und wollte gerade die Gruft verlassen, als ihr etwas Merkwürdiges auffiel. Sie richtete die Taschenlampe erneut auf die anderen Gräber. Die
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