Der Tag ist dein Freund, die Nacht dein Feind (German Edition)
weggeworfen, verschenkt oder ver äußert werden, damit das Haus bald möglichst verkauft werden konnte. Emily wollte es nicht und nach allem, was sie bislang herausgefunden hatte, war sie geneigt, dem schriftlichen Rat ihrer Mutter zu folgen und alle Brücken nach England abzubrechen. Sie wollte schnellstmöglich nach New York zurück.
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Als Emily Watson u m halb acht aufwachte, dröhnte ihr Schädel gewaltig. Sie erinnerte sich schemenhaft an einen seltsamen Traum, in dem Edward Watson das Mausoleum auf dem Highgate Friedhof angezündet hatte und danach in eine Viehtränke gesprungen war. Seine drei Kinder hatten ihm gewunken und waren dann in der Dunkelheit verschwunden.
Sie stand auf und duschte sich eiskalt ab, um die Erinnerung an den seltsamen Traum zu verscheu ch en und einen klaren Kopf zu bekommen.
Dabei kam ihr eine Idee: W enn jemand Informationen zu der seltsamen Grabinschrift haben musste, dann doch der Friedhofsverwalter. Schließlich war er an der Koordination der Begräbnisse beteiligt. Natürlich nicht der heutige Verwalter, aber vielleicht besaß er Unterlagen aus der Geschichte des Friedhofs, die Aufschluss darüber geben konnte n , was die Verse zu bedeuten hatten. Da Emily nicht wieder zum Friedhof fahren und Gefahr laufen wollte, von dem alten Mann erneut in die Gruft geschickt zu werden , zog sie es vor, sich telefonisch danach zu erkundigen. Das Telefongespräch verlief so gruselig, wie sie es erwartet hatte. Der Mann schien seinen Spaß daran zu haben, ihr einen Schrecken einzujagen.
„Miss, ich war noch nie in dieser Gruft. Aber die Inschriften aus dieser Zeit haben meistens eine tiefe Bedeutung, weil die Menschen damals noch wirklich entscheidende Dinge auf die Grabsteine meißeln ließen. Nicht so einen Mist , wie sich heute viele einfallen lassen. Ich an Ihrer Stelle würde das ernst nehmen. Mehr kann ich Ihnen auch nicht sagen. Aber vielleicht weiß Reverent Simmons etwas darüber. Er ist der zuständige Geistliche der Gemeinde, die die Bestattungen schon damals durchgeführt hat. Reden Sie mit ihm. Er wohnt im Pfarrhaus von St. Michael´s. Vielleicht hat die Gemeinde ja Unterlagen darüber aufbewahrt. “
Emily bedankte sich herzlich und rief die Auskunft an, um die Telefonnummer des Reverents zu erfahren. Wenig später meldete sich eine sympathische Stimme, die einem älteren Herrn gehören musste.
„Guten Tag, Reverent. Bitte entschuldigen Sie die Störung… I ch könnte Ihre Hilfe gebrauchen.“
„Brauchen Sie geistlichen Beistand? Dann vereinbaren wir am besten direkt einen Termin.“
Emily wiegelte ab. „Nein, nein. Vielen Dank. Es ist so, meine Mutter ist vor wenigen Tagen gestorben und da gibt es einige Dinge, die Fragen aufwerfen.“
Es herrschte einen Moment Stille in der Leitung.
„Mein herzliches Beileid. Sind Sie sicher, dass wir uns nicht zusammensetzen sollten? Sie klingen recht aufgewühlt. Vielleicht kann ich Ihnen helfen. Steht Ihr Mann Ihnen zur Seite? Möchten Sie vielleicht Details des Begräbnisses durchgehen?“
„Nein, nein, vielen Dank , das Begräbnis wird bereits von ihrem Anwalt organisiert . Ich komme am besten direkt zur Sache. Ich habe unsere Familiengruft auf dem Highgate besichtigt und dort auf einem sehr alten Grabstein eine seltsame Inschrift gefunden. Der Friedhofsverwalter sagte mir, dass Sie mir eventuell dabei helfen könnten, ihren Sinn zu verstehen.“
Der alte Mann räusperte sich und wurde hörbar aufgeregt.
„Eine Inschrift? Um was handelt es sich denn? Haben Sie sie da, könnten Sie mir die Inschrift vorlesen?“
Emily kramte schnell den Zettel hervor. „Natürlich: Er ließ sein Leben für die Seinen, die in Trauer um ihn weinen. Fürchtet euch vor dem Engel der Rache! Wenn der Letzte hat gebüßt, der Fluch der Rache ist gelöst!“
Plötzlich herrschte Totenstille in der Leitung. So lange, dass Emily anfing, sich Sorgen um den Alten zu machen.
„Re v eren t , sind Sie noch da?“ Ein nervöses Husten beantwortete ihre Frage.
„Von wem war der Grabstein, au f dem das stand?“
„Von einem Urahn von mir. Edward Paul George Watson. Sagt Ihnen der Name etwas?“
Wieder ein Räuspern. „Der Brand von 1726. Ich habe einmal etwas darüber gelesen. Ich kann Ihnen allerdings nicht sagen, wie das in Verbindung mit den Versen steht, die Sie mir gerade vorgelesen haben. Aber…“
„Aber… was?“ Emily wurde langsam nervös. Der alte Mann schien etwas zu wissen, d as s er nicht herausrücken oder in Worte fassen
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