Der Tag ist dein Freund, die Nacht dein Feind (German Edition)
gerade im Begriff, einen völlig unüberlegten Fluchtversuch zu starten, als Gene sie hart am Arm zurückhielt und sein kalter Atem ihr Ohr streifte . E r flüsterte ihr zu: „Nein, nicht. Das wäre ein großer Fehler. Spiel das Spiel mit, sonst kommst du hier nicht lebend raus. Gleich sind wir in meinem Quartier.“
Emily folgte ihrem Cousin also so ruhig wie möglich aus dem gruseligen Salon hinaus . Als sie durch einen langen Flur gingen, der sich von seiner Innenarchitektur her in jedem größeren Herrenhaus hätte befinden können, atmete die junge Frau erleichtert auf. Der Blutgeruch hatte sich in Nichts aufgelöst. Die Wände waren Holz getäfelt, und zwischen gusseisernen Kerzenleuchtern hingen Gemälde von Vampiren in unterschiedlichen Epochen. Die letzten Bilder, die sie passierten, schienen aus heutiger Zeit zu stammen, wie man an der Kleidung und den Frisuren feststellte.
„Wer sind diese Menschen?“
Gene grinste. „Formuliere deine Frage anders.“
„Hm? Oh. Ich meinte natürlich, wer diese Vampire sind. Du weißt doch, was ich meinte!“
„Schon gut, kein Grund, gleich aggressiv zu werden. Jede Unterkunft hat ihre eigenen Oberhäupter. Wie Familienoberhäupter halt , nur dass sie in England den Titel „Lord“ tragen, was aber nicht zu vergleichen ist mit der menschlichen Bedeutung . Diese Bilder zeigen alle von ihnen, die in dieser Unterkunft geherrscht haben.“
Emily sah sich kurz um. „Es sind so viele. Ich dachte, Vampire seien unsterblich?“
Ihr Cousin lachte und schüttelte erheitert den Kopf. „Oh man. Emily Watson, du musst noch viel über uns lernen. Wir sterben keines natürlichen Todes. Logisch, wir sind ja schon tot , so gesehen . Aber das macht es nicht unmöglich, uns umzubringen! Sonnenlicht, Köpfen , Abfackeln … es gibt viele Arten, auf die man uns töten kann. Leider ist es gerade Lords oft nicht vorbestimmt, sehr alt zu werden, weil sie ihre Familien im Kampf verteidigen, auch wenn gerade sie sich lieber zurückhalten sollten. Das geht hin und wieder daneben.“
Vor dem letzten Gemälde blieb Gene plötzlich stehen und betrachtete es nachdenklich.
„Das ist der Mann, den du suchst. Roy.“
Emilys Herz begann zu rasen, als sie auf das Bild blickte. Die Kreatur besaß eine außerordentliche Schönheit, und von seinen Augen ging eine Magie aus, die mit Worten kaum zu erfassen war. Emily fragte sich, ob man diesem Blick in der Realität standhalten konnte, wenn es ihr schon mit dem Bild fast nicht gelang. Je länger sie den Vampir ansah, der ihre Familie beinahe ausgerottet hatte, desto stärker spürte sie die Sehnsucht, die in seinem Blick lag. Sein Mund lächelte, doch das Lächeln kam nicht bei den Augen an. Die dunklen Seen , eingerahmt von langem, pechschwarzem Haar, musterten sie traurig und hoffnungslos. Die markanten Gesichtszüge mit der starken Kieferpartie ließen den Lord trotzdem entschlossen und unglaublich stark wirken. Plötzlich spürte Emily eine Schuld auf ihren Schultern ruhen. Die Schuld ihres Urahns Edward Watson, der versehentlich die Familie dieses Vampirs ausgelöscht hatte.
„Leiden Vampire genauso wie Menschen?“
Gene sah sie verwirrt an. „Was meinst du?“
„Wenn ihr… liebt ihr eigentlich überhaupt?“
„Du meinst, ob wir seelische Schmerzen empfinden können?“ Emily nickte.
„Mehr als jeder Mensch. Wir haben eine… angeborene Melancholie, falls der Begriff ‚angeboren’ hier angebracht ist. Wenn wir uns verlieben, dann wesentlich intensiver als jedes menschliche Wesen. Und wenn uns diese Liebe genommen wird, verzweifeln wir mehr, als es ein Mensch je könnte.“
Emily nickte. Sie verstand nun, warum Roy diesen Fluch der Rache geplant hatte. Sie verstand ihn und wollte ihm noch dringender als zuvor sagen, wie sehr er im Irrtum war.
„Hat Roy auch einen Nachnamen?“
„Nein. Vampire benutzen keine Nachnamen. Das ist ein menschliches Ding, das der Identifizierung gilt und dich einer menschlichen Familie zuordnet. Wir leben anders und brauchen das nicht. Wir identifizieren uns hiermit.“
Gene zog einen Ärmel seines Hemdes hoch und zeigte ihr die Innenseite seines Handgelenks. Emily konnte eine winzige Tätowierung erkennen, dasselbe Symbol, das sie am Eingang der Unterkunft gesehen hatte. Lumen L acrimabundus.
„Ihr habt es alle?“ Ihr Cousin nickte und verdeckte das Zeichen wieder mit dem Ärmel.
„Ja, alle. Nur wenn du verstoßen wirst, wird es beseitigt .“
Emily dachte einen Moment darüber nach.
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