Der Tag ist hell, ich schreibe dir
Orientierung der Entwicklungshilfe. Finanzminister, Entwicklungshilfeminister und Abgesandte von etwa dreißig Ländern der » Dritten Welt« diskutierten mit ungewohnter Härte. Neue Kredite sollten ausgehandelt werden; ihre Bedingungen wurden infrage gestellt.
» Du musst heute Abend ohne mich auskommen«, sagte Jonathan Kepler im Anschluss zu Carsten Willms. » Ich muss jetzt gleich schreiben, morgen früh habe ich zu wenig Zeit.«
Er fuhr mit der U-Bahn zurück zur Wohnung seines Kollegen und kaufte sich auf dem Weg noch einige Flaschen Bier. Die erste trank er, während er nachdachte, die zweite, um sich fürs Schreiben in Fahrt zu bringen, die dritte, als er fertig war. Am Sonntagmorgen um halb acht faxte er seinen Artikel vom Pressebüro im Hotel Lombardy aus nach Berlin. Am Sonntagnachmittag besuchte er den Zoo.
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7. September 1987
Lieber Julius,
als du gestern fortgegangen bist, hatte ich keine Lust zu arbeiten. Es war so schön, in Ruhe mit dir zu sprechen. Ich würde auch gern einmal mit dir ins Konzert gehen. Meinst du, das wäre drin? Ich bin mit dem Bus zur Nationalgalerie gefahren und von dort am Landwehrkanal entlang und bis zum Anhalter Bahnhof gelaufen. Mit dem Bus wieder zurück. Zu Hause habe ich sehr lange in den Gedichten von Emily Dickinson gelesen, wegen Virginia Woolf, die sie zitiert, bestimmt bis halb zwölf. Sie spricht vom Tod, ganz zärtlich:
» Thine is the stillest night, / Thine the securest fold / Too near thou art for seeking thee / Too tender to be told.«
In der Nacht habe ich von dir geträumt. Du warst mit deiner Frau zusammen bei mir zu Besuch, und ich hatte für euch Lasagne gekocht, Unmengen, und du hast immer nur gesagt: Wer soll denn das alles essen? Deine Frau hat beim Essen so merkwürdig zur Wand gestarrt, und wir haben uns umgedreht, und da hat an der Wand in riesigen Buchstaben HELENS HERKUNFT gestanden, und dann hat sie mich ganz mitleidig angelächelt, und mit einem Mal wurde sie immer größer, immer größer, und ganz dünn, bis sie mit dem Kopf fast an die Decke stieß, und meine Decke ist immerhin drei Meter hoch. Ich weiß gar nicht, ob ich dir das schreiben soll. Es war ein grauenhafter Traum.
Ach, bitte, lieber Julius, besuch mich doch bald wieder. Zuletzt warst du hier im Juli, jetzt haben wir September.
Sei umarmt von deiner Helen.
PS : Ich habe mir heute Vormittag eine Schallplatte von Brahms gekauft, mit dem Streichquartett a-Moll, opus 51. Ich lege sie jetzt auf. Im Hof draußen ist es ganz still.
8. September
Lieber Julius,
ich träume so heftig zur Zeit, ich würde lieber gar nicht schlafen. Mein Großvater ist mir im Traum erschienen, und heute hatte ich den ganzen Tag das Gefühl, er sitzt hinter mir im Zimmer. Ich musste mich dauernd umdrehen. Er hat mir als Kind manchmal von einer Weißen Frau erzählt, die am Weiher seines Dorfes aufgetaucht ist, eine Untote. Vielleicht hat er mir ein bisschen zu viel Schauergeschichten erzählt, als Kind, und jetzt kommen sie in meinen Träumen wieder. Frau Dr. K. hat gesagt, es kann bis zu drei Jahren dauern, bis man den Tod eines nahen Menschen verarbeitet hat. Opa ist jetzt ein Jahr tot. Ich weiß nicht, warum mich der Gedanke so terrorisiert, dass Tote um uns herum sind, bei Virginia Woolf tun sie es auch, und sie findet es gar nicht schlimm. Aber ich, ich finde es ganz schrecklich, mein Großvater möge mir verzeihen.
Hab eine gute Zeit in Amerika, das wünscht dir
deine Helen.
3 Canto infernal
Ich bin die Geschichte, Blut und Verrat
Fünfhundert Jahre lang schon
tragen meine Schultern
die Narben der Tavascu
tätowiert von sieben Kriegen
Sonne und Mond
Bestimmen den Lauf der Welt
Unser Gold war viel mehr wert
Als eure amerikanischen Dollares
Es war der Tag
An dem die Arbeit vollbracht
Es war die Tat
Bevor wir küssten die Nacht
Es war der Lauf der Welt
Sonne und Mond
Der Lauf der Arbeit unserer Hände
Wir verehren unsere Toten
Die Krieger von Montalban
Die Frauen die Kinder
Wir schenkten ihnen unser Gold
Die Farbe des Mais
Unser Wasser unsere Erde
Sie waren unser Reichtum
Wir bauten ihnen Paläste
Urnen aus Gold
Skulpturen aus Stein
Sie bewohnen eure Museen
Ihrer Magie beraubt
Der Magie der mexikanischen Sonne
Des Tages Lauf der Arbeit Früchte
Wir liebten unsere Grünsteinperlen
Das feuchte Glänzen unserer Wälder
Purpur ist unsere älteste Farbe
Das Blut des Birnenkaktus ist sie
Schwertlilienblau heißt die der Liebe
Zitronenfaltergelb leuchtet der
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