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Der Tag ist hell, ich schreibe dir

Der Tag ist hell, ich schreibe dir

Titel: Der Tag ist hell, ich schreibe dir Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tanja Langer
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schwärmte ihm von Ivan Illich vor, einem Geistlichen, der in den Slums von Mexiko lebte und beim Club of Rome Studien über die Grenzen des Wachstums veröffentlicht hatte, und ich fragte ihn, wie er zu seinem Beruf gefunden hatte. Er erzählte mir, dass er nach dem Krieg gern Philosophie studiert hätte und dass er Fußball spielen musste, in der Universitätsmannschaft, um überhaupt einen Studienplatz zu bekommen. Dass es dann eben Betriebswirtschaft und Volkswirtschaft geworden sei; logisch denken könne er vielleicht wirklich am besten. Eine ähnliche Geschichte hatte uns mein Latein- und Griechischlehrer erzählt, nur bei ihm war es die Handballmannschaft gewesen.
    » Ich musste zu Fuß von meiner Bude am Stadtrand von Dortmund zur Uni laufen«, sagte er, » jeden Tag eine Stunde hin, eine zurück. Meine Großeltern gaben mir immer eine Hartwurst mit, die musste eine ganze Woche lang reichen, mit Brot, und, wenn wir hatten, Äpfel. Wir mussten im Winter zu den Vorlesungen eigene Briketts mitbringen, um die Räume zu heizen. Aber das war alles gar nicht schlimm, Hauptsache, wir durften lernen.«
    Ich betrachtete dich, während du sprachst, dein Gesicht war lebhaft, deine Gesten unterstrichen deine Worte. Ich spürte die Kälte des Winters und die Hitze des Sommers, durch die du liefst. Ich sah das möblierte Zimmer, den dunklen Schrank und das alte knarrende Bett mit der schweren Daunendecke und deine Vermieterin im geblümten Kittel. Ich sah, wie du bis in die Puppen über den Büchern sitzt, wie du auf dem Fußballplatz ungeduldig wirst und rennst und deine Mitspieler anranzt. Ich staunte die ganze Zeit. Die Männer, die ich in deinem Alter kannte, von meinem Vater abgesehen, waren so anders und erzählten mir natürlich auch nie solche Dinge. Sie waren weit entfernt von mir, sie waren mir verschlossen. Sie hatten Namen, und ich bediente sie. Sie hatten Frauen und sie fragten manchmal, na Helen, was macht die Schule? Was machen die Jungs? Und auch Papa war anders. Er las die Bild -Zeitung und machte die Wäsche und legte die Handtücher für die Garderoben zusammen. Er zapfte Bier und deckte die Tische und servierte das Essen. Er hatte ein Geschick, Leute zu verbandeln, er brachte immer die richtigen zusammen, wenn einer neu in den Club kam. Er konnte überhaupt gut mit Leuten. In den Geschäften zum Beispiel, in denen er einkaufte, bei der Gemüsehändlerin, im Supermarkt, in der Markthalle. Als Kind bin ich immer mit, ich durfte auf dem flachen Einkaufswagen fahren, auf dem er Kisten mit Mehl, Zucker und Dosen stapelte. In der Markthalle starrte ich in den schmalen Kabuffs, in denen die Händler ihre Kassen stehen hatten, jedes Mal die Pin-up-Girls an, und wenn wir alles ins Auto gepackt hatten, aß er heiße Fleischwurst am Marktbüdchen und ich bekam eine Tüte Pommes. Inzwischen begleitete ich ihn nicht mehr so oft. Abgesehen von allem anderen: der Hauptunterschied war ja wohl, dass Papa mein Vater war. Dieser Mann aber war ein Fremder. Er war wegen mir hier, oder anders herum, ich war wegen ihm hier. Ich saß in einem teuren Frankfurter Hotelrestaurant mit einem bekannten Bankier, der dreißig Jahre älter war als ich und wenig Zeit und viele wichtige Dinge zu tun hatte.
    » Wie war er?«, hakte Jonathan Kepler ein, und » wie war er?« würde mich später immer wieder jemand fragen. » Wie ist er so gewesen?«
    Julius war lebhaft, blitzschnell und humorvoll. Wenn er lachte, bildeten sich zwei Grübchen auf den Wangen und er bekam einen so verschmitzten Ausdruck, als hätte er gerade etwas ausgeheckt. Er war neugierig. Er fragte viel. Er sah mich nicht auf diese merkwürdig anzügliche Art mancher Herren an, vor der ich mich im Golf Club oft in die Küche rettete oder vor der ich mich in weiten Pullovern und schlabbrigen Cordhosen versteckte. Er sah mich an, vollkommen offen, geradeaus und freundlich. Seine hellgrauen Augen waren verschieden im Ausdruck, manchmal schien sein linkes Auge auf ein mathematisches Problem gerichtet zu sein, das er im Kopf löste, während das rechte mich ansah. Er zog beim Sprechen oft die Augenbrauen hoch, und nachdem wir eine Weile miteinander geplaudert hatten und er ein Glas Weißwein getrunken hatte – » es stört Sie doch nicht, wenn ich?« –, fiel er immer stärker in einen ganz eigenen Singsang, aus dem Ruhrpott, aus dem er kam. Er durchsetzte seine Rede mit regionalen Wendungen, die er mir erklärte; er sagte immer wieder » wollwoll«, womit die Pöttler ihr

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